Stern der Ungeborenen
Etwas an dem routinierten Wortgalopp dieses Berichterstatters gemahnte mich an jene Radioredner meiner eigenen Lebenszeit, die sich als Beschreiber von Staatsempfängen, Olympischen Spielen, Fußballmatches oder Pferderennen spezialisiert hatten und mit farbiger Eloquenz diese Ereignisse, während sie gerade abliefen, dem bequemen Publikum daheim ins Gehör servierten. Ja, auch er vermittelte ferne Ereignisse, während sie abliefen, nur tat er es ohne Eloquenz mit unbeteiligter Trockenheit, obwohl diese Ereignisse nichts Geringeres betrafen als das Schicksal der Welt. Ich werde gleich verraten, warum ich meine Aufmerksamkeit nicht voll auf den Berichterstatter konzentrieren konnte; dennoch blieben mir einige Sätze wie die folgenden im Gedächtnis, hauptsächlich wegen der Worte »Diabolische Fachlehrer« und »Eurasische Halbinseln«:
»Die Waffensammler haben an vielen Orten ihre Fernsubstanzzertrümmerer in Stellung gebracht. Es ist zum Verwundern, woher die Jungen alle diese tausend Rohre und Röhrchen zusammengekratzt haben. Ohne Zweifel sind diabolische Fachlehrer seit undenklichen Zeiten um die Welt gewandert und haben die positiv ansprechenden Typen im Gebrauch der alten Waffen unterwiesen. In den drei Verwaltungsquadraten der eurasischen Halbinsel erscheint das Treiben am dichtesten. Die Dschungel liegen gefährlich still, obwohl kinderreiche Familien, Bewohner der ehemaligen Unterstädte, vazierende Junggesellen und gestrandete Existenzen überall die Glacis überschreiten …«
Diese Rede habe ich aus mehreren Berichtsteilen zusammengefügt. Der Grund, warum ich sie nicht im ganzen verfolgen konnte, war der Mann am andern Vorlesepult, links vom Seleniazusen. Dieser Staatsbeamte könnte im Hinblick auf seine Tätigkeit mit keinem zutreffenderen Titel benannt werden als der »Annalenleser«. Auch der Annalenleser hatte einen mächtigen Folianten vor sich auf dem Pulte liegen. Die Spiegelseiten dieses Folianten jedoch wurden von hinten nach vorn umgedreht. Während der Berichterstatter mit der Zeit vorwärts ging, verfolgte sie der Annalenleser vom Augenblickspunkte rückwärts. Er las als Historiker die unbekannten Zusammenhänge, wie sie sich durch das Fortschreiten der Ereignisse rückwirkend entschleierten. Leider war ich in der Kunst des polyphonen Innewerdens von Worten noch so unbewandert, daß der Annalenleser mich nur störte, den Berichterstatter zu verstehen, ohne daß er sich selbst mir verständlich machte. Ich verstand nur soviel, daß er verschiedene Kausalitätsfäden bloßlegte, die einerseits zum Schuß beim Sympaian und andererseits zur weltaufwühlenden Wirkung dieses Schusses geführt hatten.
Es wäre hier leicht für mich, der Versuchung zu erliegen und dem Annalenleser ein paar Sätze in den Mund zu legen, um die Ereignisse, dort wo sie selbst in mir grau und verwischt sind, durch ein logisches Band zu verknüpfen. Keine andere Handlungsweise aber würde ich mehr verabscheuen als diese. In der Katastrophe, deren Zeuge ich wurde, steckte manch ein ungelöstes Rätsel. Da ich als flüchtiger Besucher einer sehr fernen, vielfach schwankenden und mir unbegreiflichen Zukunft nicht verpflichtet bin, diese Rätsel zu lösen, so kann auch der feinhörige Leser nicht wünschen, durch plumpe Lösungen, wie in Detektivgeschichten, verletzt zu werden. Die Wahrheit über alles! Und gar auf einem Gebiete, wo Wahrheit von Lüge überhaupt nicht zu unterscheiden ist. Ich setze meine ganze Ehre in diese Devise. Darum habe ich gegen mein Interesse als Autor von allem Anfang an den Leser gestört, ihn ins Gespräch gezogen und ihn beschworen, er möge »geistiges Schauen« nicht mit Traumgewühl oder gar mit keckem Spiel der Phantasie verwechseln, so schwer diese Elemente auch auseinanderzuhalten sein mögen. Ich habe in meinem Leben gar viele realistische Geschichten erzählt, aber in keiner habe ich unter ähnlichen Qualen der Wahrheit gedient wie in diesem völlig unkontrollierbaren Bericht. Wir haben am ersten Tage die Waffensammlung Io-Dos gesehen, ohne zu ahnen, daß sie mehr bedeutete als einen Spleen des reinen Spiels. Wir hörten das Tagesorakel des Geoarchonten, wir waren Zeugen von Io-Fagòrs düstern Ahnungen und von einigen Begebenheiten, die auf einen ernsten Wandel der Dinge hinwiesen: Der Besuch des Seleniazusen beim Hochschwebenden, der Exodus der Katzen, der Hühnermord und so weiter. Wir haben den Schuß beim Sympaian erlebt, und allerlei dumpfes Geflüster drang uns in die Ohren.
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