Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
sondern auch Verteidigungsmittel ersonnen, die die Zerstörung abwandten. Nach der Explosion des Aktualitätsfolianten wurde die Stille in der Halle noch tiefer. Der Lärm des Krieges – wenn es einen solchen Lärm gab, was ich stark bezweifle – konnte hier in diese Halle nicht eindringen. Nur das Regenlicht wurde um einige Schatten dunkler und dämmervoller. Und es geschah dasselbe, was gestern abends im Theater geschehn war, als Io-Dos Schuß den Schädel des dienenden Bruders zerschmettert hatte: Die versammelten verhüllten langsam ihre Häupter mit den dehnbaren Gewandschleiern von hellem Violett. Nur eine einzige Persönlichkeit, außer mir selbst, verhüllte sich nicht. Es war der Mondgeweihte. (Ich mußte daran denken, daß er gestern das Comptoir des Hochschwebenden verhüllten Haupts verlassen und somit diesen Akt der Trauer und des Nichtsehnwollens vorweg genommen hatte.) Jetzt beschrieb er mit sehr kleinen Schritten einen Kreis um die weiße Säule, wobei er je eine verabschiedende Verbeugung in die vier Weltrichtungen vollführte. Es schien, er wolle ein paar Worte sprechen; entscheidungsscheu bis zur letzten Sekunde aber unterließ er es. Sein lächelnder Blick traf mich und hielt mich fest. Der Blick sagte ausdrücklich: Gedenken Sie meines Tagesorakels, »die Fremde, die in die Heimat kommt, macht sich selbst nicht heimisch, die Heimat aber fremd«. Ich mußte Augen und Kopf senken vor diesem Blick und vor dem Tagesorakel, das meine Seele durchtönte. Noch einmal, ganz leise, schlug der Hammer Mondschattens an die hohle Säule. Schwere Flüsterworte fielen:
    »… oder den Mondgeweihten selbst …«
    Ich hob meine Augen, obwohl ich wußte, daß es verboten war und daß ich es nicht tun durfte. Die Schachfiguren im riesigen Raum der schiefen Ebene standen mit ihren verhüllten Köpfen bis zum Gürtel gebeugt. Die weiße Metallsäule war nicht mehr weiß, sondern mit einem orangeroten kochenden Qualm erfüllt. Es war nicht erlaubt, das Große, was sich jetzt begab, mit Augen zu sehn. Ich neigte nur ein wenig meinen Kopf, wie es etwa der Beiwohner eines religiösen Rituals macht, das nicht das seine ist. Ich besaß freilich nichts, um mein Gesicht zu verhüllen. Und ich war entschlossen, das Große zu sehn trotz allen Verbotes.
    Mit kurzen leichten Schritten, als bedeute für ihn weder die Glätte des Bodens noch der scharfe Anstieg der schiefen Ebene ein Hindernis, hatte der Seleniazuse den Weg bis zum Rundbogen zurückgelegt, der in jenen dunklen Nebenraum führte, welchen ich vorhin mit einem überdimensionierten Backofen oder mit einer Bühne für Staatsaktionen und Trauergepränge verglichen habe. Vor dem Ausschnitt machte der Mondgeweihte halt, als überdenke er noch eine Obliegenheit, die er vergessen hatte. Ich fühlte seinem Rücken ein kurzes Zögern und Sichducken an. Warum sollte aber der Seleniazuse nicht auch der Natur den Zoll der Angst entrichten dürfen? Nun aber trat er langsam, mit unvergleichlicher Gelassenheit über die Schwelle der Finsternis und verschwand nach einigen Schritten in ihr. Das ist alles, dachte ich, und die Welt wird ihn nie mehr wiedersehn. Kaum aber hatte ich’s gedacht, schlug in der Tiefe des abgedeckten Raums eine orangerote Flamme hoch, die für den Bruchteil des Bruchteils einer Sekunde Menschengestalt annahm und schon wieder erloschen war. Der Major Domus Mundi hatte die Verfassung erfüllt, die ihm gebot, sich selbst in der orangeroten Flamme des sterbenden Mondes verschwinden zu lassen, wenn er nicht die Kraft und den Willen besaß, andere derselben Flamme zu weihen, um die Weltgesittung zu retten. Er hatte diese Kraft und diesen Willen nicht besessen, sei es, weil er zu klein, sei es, weil er zu groß war. Die Regierung dieses Namenlosen, dieses nie mehr Identifizierbaren, der nun vernichtet und vergessen blieb für immer, hatte mit einem der schwersten Mißerfolge der Weltgeschichte geendet. Trotz des Unheils, das im Gange war, oder gerade wegen dieses Unheils, bereiteten die geheimen Kommissionen mit größter Eile die neue Wahl vor. Ich fühlte es hinter meinem Rücken. Als ich mich umdrehte, sah ich den Uranographen von Schachfigur zu Schachfigur eilen. Vermutlich hatte man schon die elf wahlfähigen Seleniazusen festgenommen, und sie klagten und jammerten bereits in ihren Kerkern, was ich gut verstehen konnte, denn dem neuen Welthausmeier war nicht zu gratulieren.
    Der alte aber hatte sich geopfert wie … ich hätte jetzt beinah die

Weitere Kostenlose Bücher