Stern der Ungeborenen
Ich spürte es unverzüglich an einer gewissen innern Stumpfheit und Nerventaubheit, der ich verfiel, dem gegenteiligen Zustand, wie ihn der eisengraue Rasen erweckte. Warum aber der Boden der kolossalen Lokalität eine schiefe Ebene war, die in einem beträchtlichen Winkel nach oben, das heißt zum Standort des Seleniazusen anstieg, darüber kann ich nur die Mutmaßung äußern, daß der »Weg nach oben« symbolisch und praktisch durch Mühsamkeit und durch die Gefahr des Ausgleitens erschwert sein sollte. Letztere Gefahr habe ich selbst erlebt, denn obwohl mich Io-Fagòr rechts und Jo-Solip links stützten, konnte ich den Weg nach oben beinahe nicht leisten und rutschte immer wieder zurück.
Als ich endlich ziemlich atemlos Posto gefaßt hatte, verschwanden Io-Fagòr und Jo-Solip von meiner Seite, da sie nicht zum Staatsrat gehörten. Ich stand allein und fühlte mich verlassen. Mochte ich aber sein, wer immer ich war, die violette Handgelenkschleife gab mir nicht nur das Recht, im Hause der Lords (eine neue falsche Bezeichnung) persönlich aufzutreten, sondern sogar auch in die erste Reihe geschoben zu werden. Ich stand allein und in der ersten Reihe dieser schachspielartig aufgestellten Versammlung, deren einzelne Figuren in regungslos versunkener Haltung, in weiten Abständen voneinander, den mächtigen Raum füllten. Keiner wandte den Blick zur Seite, um seine Nachbarn anzusehn; auch ich hielt mich nun an diese wichtige Regel. Nur auf meinem so mühsamen Wege nach oben hatte ich bemerkt, daß die Senatoren nicht etwa in Kutten gekleidet waren wie die astromentalen Weltbeamten, sondern hellviolette (heliotrope) Schleiergewänder mit reicher Raffung trugen, im Gegensatz zur tiefvioletten Gewandfarbe des Major Domus Mundi. Dieser stand inmitten des letzten leeren Fünftels der Halle. Dort, wo die schiefe Ebene sich am steilsten erhob und in einen sonderbaren Nebenraum mündete, der durch einen mäßig hohen Rundbogen abgetrennt war. Man hätte diesen ganz in Dunkel getauchten Raum für einen überdimensionierten Feuerplatz oder für einen riesigen Backofen halten können, wäre er für beiderlei Zwecke nicht zu sinnlos groß gewesen. So aber konnte ich, von dieser finstern Höhle gebannt, den Verdacht nicht abweisen, ich habe eine verdunkelte Bühne vor mir, die für den Vollzug gewisser Staatsakte, für Krönungszeremonien, vor allem aber für heiliges Trauergepränge bestimmt sei. In der ungeheuren Halle selbst herrschte das, was ich schon öfters als Regenlicht bezeichnet habe, jene Beleuchtungsart, welche die astromentale Zivilisation für nüchterne und rationalistische Zwecke zu bevorzugen schien.
Der regierende Seleniazuse lehnte, behäbig und zierlich zugleich, an einer metallenen Säule, der einzigen in dieser Halle, die weiß und schlank aus der schiefen Ebene in die Höhe wuchs. Daß er nicht frei stand wie die andern, nahm ich für ein Zeichen seines höheren Alters und seiner mondentstammenden Müdigkeit. Vom ersten Augenblick an gemahnte mich das Antlitz des Identitätslosen an den Gesichtsausdruck des Mutarianers Io-Fra, als dieser gestern in der Loge mit vollgeöffnetem Bewußtsein dem blutigen Tode entgegengeharrt hatte. Der Seleniazuse freilich leuchtete nicht ein bißchen, er schimmerte nicht einmal. Er war kein Heiliger. Er war nur ein Wissender und Duldender. Er lächelte vor sich hin. In dieses Lächeln mit halbgeschlossenen Augen aber waren so widersprüchliche Ingredienzen gemischt wie Trotz, Spott und Ironie.
Rechts von der Säule des Geoarchonten war ein Lesepult in die schiefe Ebene festgeschraubt. Auf diesem Lesepult lag ein Foliant, der mich als plumper Anachronismus beunruhigte, ehe ich sein wahres Wesen erkennen durfte. Dies aber geschah schnell genug. Der Mann an diesem Pult, den man am besten als »Berichterstatter« bezeichnen kann, wendete die Seiten des Folianten um, aus denen er wie ein Parlamentssekretär mit eintöniger Geschwindigkeit vorzulesen schien. Die Seiten waren aber gar keine Buchseiten, sondern matte Spiegel oder präparierte Platten, von denen ein schwaches Licht ausging, das den Kahlkopf des vortragenden Staatsbeamten schwach anschimmerte. Es dauerte vielleicht eine Minute, bis ich erkannte, daß der Berichterstatter aus den reflektierenden Spiegelseiten nicht vorlas, sondern daß er auf ihnen gleichzeitig stattfindende Vorgänge beobachtete, von denen er in rascher, fließend monotoner Rede der hochmögenden Versammlung und ihrem Oberhaupte Kunde brachte.
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