Stern der Ungeborenen
konnte ich mich nicht reinwaschen. Niemand aber beschuldigte mich, denn schon im unüberwindlichen Begehren Lalas nach dem Dschungel lag das entscheidende Faktum. Für die Astromentalen war ja inneres Streben und äußere Verwirklichung so gut wie ein und dasselbe. Wie vortrefflich erging es uns dahingegen im zwanzigsten Jahrhundert, wo zwischen Wunsch und Erfüllung nur die spärlichsten Verkehrsmittel unterwegs waren, wo einem Meer von innerem Streben nur einige Tropfen von Verwirklichung entsprachen, und wo man sich selbst und alle andern himalajahoch beschwindeln konnte, ohne von der eigenen und der allgemeinen Hellsichtigkeit durchschaut zu werden.
Ich hatte keinen Gradmesser dafür, wieviel nach meiner Darstellung die Hausgenossen von der ganzen Wahrheit wußten. In den wenigen Minuten aber, die wir allein waren, eröffnete ich diese ganze Wahrheit meinem Freunde B. H. Er sah mich zuerst entsetzt an, dann aber dankte er mir und meinte, ich hätte den Anfängen der Menschheit noch viel mehr Schande bereiten können. Der familiäre Teil des Rechenschaftsberichtes nahm nur wenige Minuten in Anspruch. Es handelte sich um Größeres und Schrecklicheres. Man brach unverzüglich auf. Ich hatte kaum Zeit, irgendeinen Saft aus einem Kristallbecher herunterzustürzen.
Leider wurde ich in dieser entscheidenden Stunde das Opfer einer sonderbaren Unpäßlichkeit, die den Beweis dafür erbrachte, daß meinesgleichen für keinerlei politische Mission taugt, und daß es schon schlimm um die Welt bestellt sein muß, wenn solch eine Mission Pianisten, Chirurgen, Moraltheologen, Lyrikern und andern Virtuosen aufgehalst wird. Der mit psychologischem Instinkt gesegnete Leser, der nicht nur die astromentale Epoche kennengelernt hat, sondern unvermeidlicherweise auch mich, der sie ihm beschreibt, dieser Leser wird sich wahrscheinlich schon im Büro des Generals darüber gewundert haben, warum man in dieser Sache auf Tod und Leben gerade mich zum Unterhändler gewählt hatte, mich, einen fremden Privatmann aus den Anfängen der Menschheit.
Das Wort Unpäßlichkeit, das ich gebraucht habe, ist ganz und gar unzutreffend, obwohl ich kein besseres finden konnte. Mir wurde nämlich nicht übel, ich erlitt keinen Schwindelanfall oder sonst eine Peinlichkeit, die mit dem rasch geleerten Braunbier in Zusammenhang stehen mochte; nein, ich verlor meine Stimme. Einige werden sich vielleicht noch daran erinnern, daß mir während der ersten Stunde im Haus Io-Fagòrs plötzlich die Fähigkeit abhanden gekommen war, die Monolingua zu verstehen und zu sprechen. Dies wiederholte sich jetzt nicht. Ich verstand alles. Ich hielt eine formvollendete Rede. Während ich sie aber hielt, wurde zu meinem Entsetzen kein einziger Ton laut.
Warum mir das geschah, weiß ich nicht zu sagen. Mag sein, die pathetische Situation war schuld daran. Wir befanden uns in der Sitzungshalle des Senats. An dieser Bezeichnung ist alles falsch, aber wirklich auch alles. Das Wort »Senat« ist völlig aus der Luft gegriffen. Da es ebensogut Staatsrat oder Weltrat heißen könnte, ohne darum auch nur um einen Schatten richtiger zu sein. Ich bin, wie man sieht, immer wieder gezwungen, wie im Falle »Professor« und »Exzellenz«, die erlebte Realität durch ebenso altgewohnte wie ungenaue Analogien zu umschreiben. Wie diese Assemblée unterm Präsidium des Geoarchonten sich wirklich nannte, das habe ich vielleicht gewußt, weiß es aber jetzt nicht mehr. Es tut mir leid, denn ich gehöre durchaus nicht zu denen, die behaupten, der Name sei Schall und Rauch und gehöre nicht zur Sache. Ich weiß ganz im Gegenteil, daß gar oft der Name die Sache selbst ist. Der Name Sitzungshalle ist jedoch so falsch, daß er der Sache durchaus widerspricht. Jedermann, der in diesem Buche nur geblättert hat, weiß bereits, daß es nicht Sitzungshalle, sondern Stehungshalle oder Standhalle heißen müßte. Hätte ich nicht Furcht, abstrus zu wirken, würde ich sogar am liebsten von einer Distanz-Halle sprechen. Das wesentliche an dieser Versammlung war nämlich der weite Abstand, den die einzelnen Mitglieder voneinander halten mußten. Da die Ereignisse in rasche Fahrt gekommen waren, konnte ich über solche Details zweiten Ranges keine strikte Auskunft mehr erhalten, es ist aber so gut wie sicher, daß die weiten Distanzen dazu dienten, die Einflußnahme der astromentalen Mandatare aufeinander zu verringern. Demselben Zwecke diente ohne Zweifel das »Isolierparkett« unter unsern Füßen.
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