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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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betrachten.
    »Da sehen Sie, Seigneur … Ist er nicht ein Museumsstück, ein Ausstellungsexemplar? … Und das nach zwei kurzen planetaren Stunden, nach dem zwölften Teil der Erdachsendrehung …«
    Ich beugte mich über das Kind mit der gewissen leeren Gefälligkeit, mit welcher jedermann bereit ist, fremder Leute Sprößlinge zu betrachten und zu loben.
    »Gibt es etwas Appetitlicheres auf dieser Welt?« säuselte der Animator.
    Ich sah den rötlich verschrumpelten Körper eines Neugeborenen und wünschte mir, er läge im Steckkissen. Was aber meine Blicke viel stärker bannte als der kleine Körper, war der Hydrocephalus, der Wasserkopf des Kindes mit dem dazugehörigen Greisengesicht. Ich wußte natürlich, daß die meisten Neugeborenen in den ersten Stunden Greisengesichter haben, voll Runzeln, Falten, Krähenfüßen und dem tief eingefallenen Mund zahnloser Hexen. Dies hier aber war etwas anderes. Ich sah nicht den Greisenkopf eines Neugeborenen, ich sah den Greisenkopf eines Greises, der sich dem Greisentum endlich hingeben darf, nachdem ihn die Kulturmühle so lange daran verhindert hatte. Die hundert Falten auf diesen Zügen waren nicht frische Wunden, sondern alte Narben, in denen das Desiderium originis zu erkennen war, der brennende Wunsch, sich ins Unsichtbare und Unbewußte zurückzuziehen. Der Animator blies das Greisengesicht leise an, wie man vergehende Glut anbläst. Da schlug das Wesen plötzlich die Augen auf. An den Augen erkannte ich sofort Io-Solip, den unglücklichen Vater des Bräutigams Io-Do, der dort oben den neuen Weltbrand entfesselt hatte.
    »Ist es möglich«, entfuhr es mir heiser. »Sind Sie der liebe, sanfte Herr Io-Solip, Compère? …«
    »Und wie wir’s sind … Haha, und wie wir’s sind«, antwortete der Animator für seinen Pflegling. »Wir sind der gute, liebe, brave Io-Solip noch immer und noch lange, und jetzt kriegen wir gleich unser letztes Milchlein, und dann werden wir mit dem Schläuchlein angeschlossen an die zentrale Zirkulation, und dann wird alles wohliger als wohlig und stiller als still, und die Welt wird zur Berceuse … zur Berceuse …«
    Das Wort Berceuse, das der Animator für Wiegenlied gebrauchte, klang mir affektiert und unangenehm ins Ohr. Ich aber suchte den Blick des Rückentwickelten.
    Die meisten Säuglinge haben einen tiefen, uralten Blick. Für mich war dieser uralte Kinderblick stets der Beweis für die göttliche Tiefe der Seele in uns und für die »geistige Zeit«, die vom Anfang der Welt reicht bis zum Ende und vielleicht darüber hinaus. In Io-Solips Augen aber war etwas ganz anderes als dieser uralte Kinderblick. In ihnen war der verzweifelte Sprechversuch derer, die zum Schweigen verurteilt sind. Es waren erwachsene, vernünftige Augen hinter Gitterstäben, die sich nicht mehr verständlich machen konnten. Sie wollten mich ohne Zweifel wissen lassen, daß sie mich erkannt hatten. Und noch schrecklicher als das, ein kleines schluchzendes Säuglingslallen entrang sich dem eingefallenen Mündchen des alten Menschen. Ich wandte mich ab. Meine Augen waren feucht. Hätte ich den lieben Herrn Solip als anständige Leiche gesehen, ich hätte nicht geweint.
    »Nun, Seigneur«, leuchtete der Animator triumphierend, »packt Sie endlich die Rührung? Gestehen Sie, es gibt nichts Größeres …«
    Von diesem Augenblick an war ich fest entschlossen, aus dem Wintergarten zu entfliehen und an die Oberfläche der Erde zurückzukehren, unbeschadet der Fernsubstanzzerstörer und der psychischen Artillerie. Ich segnete den guten alten normalen Tod, mochte er von außen kommen oder von innen plötzlich, welch letzteres mir die Diagnose des Animators baldigst in Aussicht stellte. Besser war er jedenfalls als dieser astromentale Umweg über den Wintergarten, obwohl ich wahrscheinlich gar nicht darüber hätte diskutieren können, warum der normale Tod besser sei als diese Rückentwicklung hier, und gewiß alle progressiven Euthanatisten gegen mich gehabt haben würde.
    Doch wie uns retten? Ich hatte nicht den leisesten Einfall, was ich tun sollte. Der Druck in meinem Kopfe steigerte sich von Minute zu Minute. Neben mir fuhr oder trottete B. H., wenn wir zu gehen hatten, mit seltsam steifem Schritt und sprach kein Wort. Ich fühlte, daß er in diesem Zustand nichts weniger für mich sein konnte als eine Hilfe. Das Einzige, was mir Vertrauen und Glauben einflößte, war die Erinnerung an die noch weit schwierigere Situation auf Apostel Petrus, der ich

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