Stern der Ungeborenen
flüsterte er nähertretend mir ins Ohr:
»Wir verlegen das Ende der Zellteilung ein klein wenig vor …«
»Wollen Sie mich nicht deutlich einweihen, Maitre Animator?«
Er suchte zweifellos durch folgende Frage auszuweichen:
»Wann beginnt und wann endet Ihrer Meinung nach die Verkörperung der menschlichen Persönlichkeit?«
Jetzt geschah etwas Unerwartetes. B. H., der wortlos stumpf auf dem Trottoir roulant neben mir einherfuhr, richtete sich mit einem Ruck auf, ballte die Fäuste, etwas rasselte in ihm wie ein Uhrwerk. Er nahm alle Willenskraft zusammen und mischte sich ins Gespräch, um zu zeigen, daß er noch nicht verloren war:
»Thomas von Aquin lehrt«, sagte er Silbe für Silbe, »daß die Persönlichkeit beginnt, wenn das Embryo nach der vegetativen und animalischen seine dritte Seele erhält, die rationale …«
»Sieh da, unserm gelehrten Freund geht es besser«, erstaunte freudig der Animator. »Badediener, einen andern Schluck dem Herrn, obwohl St. Thomas unrecht hat. Das erste und das letzte, was die menschliche Persönlichkeit ausmacht, ist das Herz. Unglaublich, aber wahr, das Herz.«
»Soll das heißen, Animator«, fragte ich, »daß mit den ersten unregelmäßigen Herzschlägen das Individuum, die unaussprechliche Persönlichkeit, die Seele in das Embryo eingeht, noch lange vor Entstehung der niedrigsten Bewußtseinsformen und Organe?«
»Genau so, wie die Seele mit den letzten unregelmäßigen Herzschlägen fort ist und nicht vorher …«
»Ah, jetzt verstehe ich das Wort Blastocyste«, rief ich erleuchtet aus, »das Wort, das ich vorhin nicht verstanden habe. Blastocyste nennt man das Embryo, bevor es ein Herz hat …«
»Das ist wirklich ein Sonntag für mich«, säuselte der Animator mit zufriedenem Lächeln.
»Und diese Blastocyste pflanzen Sie um«, triumphierte ich, »und es werden daraus Margueriten, ganze Margueritenfelder …«
»Ich muß Sie um Diskretion bitten, Seigneur«, erschrak der Animator, »denn letzteres ist dem breiten Publikum nicht bekannt …«
»Aber mir gefällt es ausgezeichnet. Ich finde es prächtig. Es ist ein Gedicht, und zwar von einem guten Urdichter, Ovid zum Beispiel. Die Menschheit, deren Abgeschiedene sich in blühende Margueriten verwandeln! Das gefällt mir besser als die klassischen Asphodelosblüten. Ich hoffe, diese Margueriten wachsen nicht in Glashäusern, sondern im Freien …«
»Auch das erraten«, lächelte der Animator, »sofern man bei uns überhaupt sagen kann ›im Freien‹.«
»Und liegt dieses Freie noch innerhalb oder schon außerhalb des Wintergartens«, erkundigte ich mich mit gleichgültiger Stimme, wobei ich meine Augen schloß, damit keine unvorsichtigen Strahlen oder Wellen die Absicht hinter meiner Frage verrieten. Es war übertriebene Sorge. Hier unten im Hohlraum gab’s keinen eisengrauen Rasen noch andere Stromleitungen von Gedanken- und Seelenregungen. Hier war das Ich mit allen seinen Tücken gut abgedichtet. Und so schien auch der Animator die Absicht hinter all meinen Fragen nicht bemerkt zu haben, denn er entgegnete offen:
»Vorläufig noch innerhalb der Mauern, Seigneur. Wir aber werden bald hinausrücken müssen vor die Tore, wenn es so weitergeht. Der Andrang ist ungeheuer. Die Leute sind alle so gierig nach dem letzten Glück …«
»Die Margueritenfelder sind gewiß nicht Ihre einzige Einrichtung plein air«, tastete ich mich mutiger vor, als wüßte ich bereits Verschiedenes. Er sah mich von der Seite an:
»Man hat ihnen gewiß etwas gesteckt, Seigneur, von den Ammen etwa …« Und er drehte sich nach den beiden Badedienern um und fragte inquisitorisch: »Hat man Seigneur etwas vom Ammenhügel gesteckt?«
Ehe die beiden Weißbekittelten mit überstürztem Eifer die Frage noch verneinen konnten, kam ich zuvor:
»Die Herren sind die Verschwiegenheit selbst. Sie haben uns nicht einmal etwas vom retrogenetischen Humus gesteckt, sondern uns mit einem sogenannten Moorbad beschummelt …«
»Das ist auch ihre Pflicht und Schuldigkeit«, erklärte der Animator.
B. H. gab sich wieder einmal einen Ruck, ballte die Fäuste und sagte wie einer, der nur mühsam die Zunge bewegen kann:
»Ich habe von den Ammen gehört … Oben … Oben drohen die Mütter ihren kleinen Töchtern damit, daß man sie als Ammen in den Wintergarten schicken werde, wenn sie nicht brav sind …«
»Empörend«, ereiferte sich der Animator, und seine Stimme gickste. »Alles was man von oben zu hören bekommt, ist
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