Stern der Ungeborenen
Zeitgenossen keine Ahnung davon hatten, daß es einen Wintergarten geben wird mit retrogenetischem Humus. Wie aber steht es mit der autobiologischen Zeit? Wie alt war zum Beispiel der Mann, den wir vorhin gesehen haben?«
Der Animator warf mir einen schnellen Blick zu und schien zufrieden zu sein:
»Der Mann, Seigneur, den Sie in seinem glücklichsten Kindheitsschlummer belauscht haben, ist bei uns laut Geburtsschein mit hundertdreiundfünfzig Jahren eingetroffen. Er ist daher noch nicht alt oder nicht alt genug, damit seine autobiologische, seine heterochrone Zeit rasch ablaufe. Man hat ihn ungefähr vor zwölf Planetarstunden eingepflanzt …«
»Und zwölf Stunden Zellteilung haben genügt, um ihn zu einem Knaben von sieben Jahren rückzuentwickeln?«
»Das ist doch eine beträchtliche Frist, Seigneur«, lächelte der Animator. »Wir haben Fälle, wo das ganze Werk innerhalb von zwölf Stunden abgelaufen ist.«
»Ist das möglich«, rief ich. »Und wie lange brauchen Widerspenstige?«
Die roten Augen des Animators glotzten mich erstaunt an:
»Das läßt sich nicht so leicht sagen, Seigneur«, erwiderte er nach einer unmerklichen Pause. »Widerspenstigkeit ist die einzige Form von Unbehagen bei uns, das der Widerspenstige sich selbst zufügt. Wir haben übrigens Fälle gehabt, die Jahre gebraucht haben …«
»Denen ist vermutlich recht geschehn«, erwiderte ich überaus konformistisch. »Nun aber verraten Sie mir noch, welches Ihre brauchbarsten, Ihre gelungensten Fälle, Ihre Musterexemplare sind …«
»Das ist leicht zu beantworten«, strahlte er. (Es fiel mir auf, daß er in der Bruthitze der Glashäuser nicht mehr schnapperte wie im Zimmer oben noch auch seine eisigen Hände rieb. Er genoß hier die ihm angemessene Temperatur.) »Ein echtes Desiderium originis«, fuhr er fort, »fördert einen blitzschnellen Prozeß, wobei im Laufe von wenigen Stunden die Blastocyste den Margueritenfeldern übergeben werden kann. Ich verstehe unter Desiderium originis die Sehnsucht nach dem Ursprung, einen der heftigsten Triebe des Menschen, wenn er alt, müde, bitter, enttäuscht, hoffnungslos, ausgeleiert ist und den Monsunattacken des ›Taedium senile‹, des Greisenekels vor sich selbst, nicht mehr Widerstand leisten kann, mag er öffentlich auch als ein noch so hübsches und noch so jugendfrisches Ururgroßalterchen herumparadieren …«
Der Animator ließ bei diesen Worten seine Basedowschen Augen die Wiegengräber entlangschweifen. Wir durchglitten längst schon auf dem laufenden Band das achte oder neunte der Glashäuser.
»Ich sollte, meine ich, hier einen schönen Fall vorstellen können«, sagte der Animator. »Es handelt sich um ein Prachtexemplar, dessen autobiologische Zeit vor kaum zwei Stunden begonnen hat. Dieser Fall überspringt ganze Perioden im Sturmlauf …« Er drehte sich zu den Badedienern um:
»So etwas an Zellteilung und Zellschwund haben wir schon lange nicht gehabt, wie?«
»Formidabel«, sagte Nummer Zwei vorsichtig. »Die trockene Periode wird bald vorüber sein …«
»Es läßt sich nicht so leicht erklären, Seigneur, wieso die Zellvermehrung zugleich ein Zellschwund ist.«
»Solche Paradoxa sind mir im Djebel geläufig geworden, Maitre Animator. Ich denke an den großer Ursler …«
»Da haben wir ihn ja. Da haben wir ihn, unsern Lieben, Guten, Braven«, flüsterte der Animator plötzlich, winkte mir zu schweigen und näherte sich auf Zehenspitzen einem der Wiegengräber, das einige Schritte entfernt lag. Diesmal kniete er in großem Eifer hin und entfernte schnell die Flaumfedern und Baumwollflocken, die den Rückentwickelten locker bedeckten und schützten. Als das geschehen war, hörte ich ihn vor Anstrengung und Vergnügung ächzen:
»Nur noch eine kurze Weile, und ich hätte den Lieben, Guten, Braven gar nicht mehr aus dem Humus nehmen können.«
Er griff in die Butte und zog kunstgerecht ein dem Anschein nach neugeborenes Kind hervor, das er vorsichtig wie ein Accoucheur auf seinen linken Arm legte, während er die rechte Hand behutsam unter den übergroßen Schädel schob. Stolz trat er auf uns zu, während er in der Zullersprache und in der Schnullersprache lebhaft auf den Säugling einredete:
Dadadada … Duziduziduz. Du Lieber, Guter, Braver, Alter … Wie gehts uns jetzt? …«
»Er ist halt so kinderlieb«, hörte ich hinter mir Badediener Nummer Eins zu Nummer Zwei sagen.
Der Animator aber forderte mich auf, den Rückentwickelten genauer zu
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