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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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scheinbar tief überzeugt davon, daß er uns bestens animiere, sofort in eines der Wiegengräber zu springen, an denen wir vorbeiglitten.
    »Ich habe feststellen lassen«, lächelte er mich feierlich an, »daß die Begriffe Ektoderm, Mesoderm und Endoderm so alt sind wie Sie selbst, Seigneur. Wir verstehen unter dieser primitiven Dreiteilung die äußere, die zwischenliegende, die innere Entwicklungs- und daher Rückentwicklungsschicht, die dem System unserer Treibhäuser zu Grunde liegt. Das ist natürlich vereinfachender Humbug, denn es gibt nicht nur drei, sondern dreihundertdreiunddreißig Entwicklungsschichten. Aber der Übersicht halber wollen wir uns an das Einfache halten. Hier zum Beispiel, verehrte Ios, gehört alles dem äußern Rückbildungsbezirk an, wir haben es mit Fällen im allerersten Stadium zu tun. Ebenso wie das Wachstum des Embryos durch rasche Zellenteilung vor sich geht, das durch die Weltallskräfte in der Amnionshöhle der Gebärmutter hervorgerufen wird, so erweckt unser gesegneter retrogenetischer Humus eine beschleunigte und doch unmerklich sanfte Zellteilung, die dem sinnigsten, behaglichsten und wonnereichsten aller Schrumpfungsprozesse zu Grunde liegt. Durch Zellteilung werden, was man ist, durch Zellteilung wieder werden, was man war, bevor man war – ich hoffe, Seigneur, daß dieses ›tour-retour‹ Ihr Entzücken finden wird …«
    Er trat auf Zehenspitzen an eines der Wiegengräber heran, entfernte mit zärtlicher Hand den Flaum und baumwollartigen Flockenhaufen und winkte uns näher, den Zeigefinger behutsam an die Lippen legend.
    »Ist es nicht süß, dieser Kinderschlaf?« flüsterte er.
    Auch wir traten nahe. Ich sah einen blankschädeligen astromentalen Kopf, der freilag, während sich ein von schwarzer Erde bedeckter Knabenkörper abzeichnete, Knie ans Kinn gezogen, Händchen abgebogen, ein Siebenjähriger etwa in Embryohaltung. Das Gesicht, nicht knabenhaft, aber alterslos wie immer, zeigte denselben seligen Ausdruck, der mich an B. H. im Moorbad so sehr erschreckt hatte. Es war übrigens hochgerötet, zweifellos von Fieber, und der Atem ging schnell, gleich dem eines Schwerkranken.
    »Dieser Kinderschlaf«, sagte ich düster aufrichtig, »ist der Prolog des Todesschlafes.«
    »Wie können Sie nur so abscheuliche Worte in den Mund nehmen«, entsetzte sich der Animator tief gekränkt. »Es ist nicht unsere Aufgabe, das Ende abzuwenden. Das Ende ist notwendig und gut. Es ist aber unsere Aufgabe, diesem Ende eine subjektive und objektive Schönheit zu geben. Im übrigen haben Sie durch brutale Nennung des Namens die Disziplinarordnung des Wintergartens verletzt …«
    »Es wird nicht wieder geschehen«, entschuldigte ich mich, »obwohl die Sache unter jedem Namen dieselbe bleibt.«
    »Der Prozeß ist heilsam, Seigneur, der Name verwundet. Die Gerichte verfolgen deshalb diejenigen, welche den Wintergarten ›Thanatodrom‹ nennen …«
    Er bedeckte schnell mit dem Flaum- und Flockenhaufen das Wiegengrab und nahm nach einer kurzen nervösen Pause seine Erklärungen wieder auf:
    »Alle Fälle hier im äußern Bezirk, im Ektoderm, sind noch frei beweglich«, sagte er, »leben gewissermaßen noch außerhalb des Mutterleibes und werden daher durch den Mund ernährt.«
    »Warum überhaupt ernährt?« fragte ich aufsässig.
    »Glauben Sie, daß wir Barbaren oder Meuchelmörder sind?« lautete die gekränkte Antwort. »Zuerst werden die Rückentwickelten durch den Mund ernährt, solange sie noch halbwüchsig sind, und zuletzt als postnatale Säuglinge. Erst wenn die Placenta sich wieder um den Fötus geschlossen hat, kommt die Ernährung durch den Nabel. Wie hin, so zurück, und gar kein Unterschied. Solange das Herz schlägt, wird ihm die notwendige Nahrung zugeführt.«
    »Und wann hört das Herz auf zu schlagen?«
    »Genau an dem entsprechenden Punkt der Rückentwicklung, da es angefangen hat zu schlagen.«
    Ich unterdrückte meine Bitterkeit. Eine mahnende Stimme innen sagte mir, daß ich keinesfalls die Feindschaft des Animators herausfordern dürfe. Dazu kam, daß mir B. H. immer mehr Sorge machte. Er war wiederum ganz willenlos geworden. Seine dunklen Augen lauschten träumerisch verhangen und beinahe gierig den Erklärungen des Animators. Ich beschloß daher, meine Taktik zu ändern und meine Gereiztheit so gut wie möglich zu unterdrücken.
    »Cher Maître«, begann ich, mühsam schmeichlerisch, »es ist wirklich kaum zu fassen. Wie schade, daß meine eigenen

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