Stern der Ungeborenen
konnte zwischen den morschen Planken der Brücke das Wasser sehen, von dem Nebel aufstieg. Ich ging mit B. H. langsam weiter. Die Brücke hatte kein Geländer. Mein Plan war gefaßt. Noch zehn langsame, wohlgezählte Schritte. Dann werde ich jäh kehrt machen, mich mit meinem ganzen Gewicht auf den kleinen Mann hinter mir stürzen und ihn ins Wasser des Mnemodroms stoßen. Sehr peinlich. Das letzte Mal, da ich mich auf irgendwen gestürzt habe, war ich siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen. Es blieb nichts anderes übrig. Eins, zwei, drei, vier. Genau beim fünften Schritt klappte die Brücke plötzlich ein, und B. H. und ich glitten gelinde über eine schiefe Ebene ins Wasser, ohne zu fallen. Wir standen im Nebel. Der See ging uns ungefähr bis zur Herzgrube. Das Wasser aber war in der Tat »Leichtes Wasser«, das, obwohl man es als laue Flüssigkeit spürte, weder unsere Kleider noch unsere Haut naß machte. Wenn ich die Hand aus dem See zog, rannen die Tropfen wie Quecksilberkügelchen ab, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der Animator stand etwa fünfzehn Schritte von uns entfernt auf dem scharfen Rand der Brücke, wo sie in wohlvorbereiteten Scharnieren herabgeklappt war. Hätte sein weißer Kittel nicht hell geleuchtet, so wäre seine Gestalt in dem Nebel und in der Dämmerung kaum zu sehen gewesen. Seine hohe, skandierende Professorenstimme aber durchdrang deutlich den trüben Raum:
»Dies geschieht einzig und allein zu Ihrem besonderen Wohle, zu Ihrem Fromm und Nutzen, glauben Sie’s mir, verehrte Ios. Geben Sie sich hin, ich rate es gut. Kein himmlischer Strahl könnte Sie je glücklicher machen als Ihre Hingabe. Das Leichte Wasser befreit Sie von Krämpfen und Widerständen. Ich komme sehr schnell zurück, um Ihren Dank entgegenzunehmen, wie ich hoffe … Denn sonst? Möchten Sie etwa ein Leben führen, wie ich es führe, seit undenklicher Zeit, ohne Tag und Nacht?«
Wir hatten Glück gehabt bei unserer tückischen Rutschpartie in den See, denn wir standen dicht beieinander im Leichten Wasser. Das gab mir die Möglichkeit, meinen Freund immer wieder mit den Armen zu umfassen. Jedesmal, wenn ich das tat, fühlte ich, wie er tiefer atmete, wie Leben und Wachen in ihn zurückkehrte. Er begann sogar rührenderweise abgerissene Sätze zu stammeln, die mir versichern sollten, daß er sich zusammennehmen und keineswegs »hingeben« werde, wie es der Animator verlangt hatte. Woher ich meinen eigenen Hoffnungsmut nahm, weiß ich nicht zu sagen. Ich leite ihn aus der Kenntnis meines Charakters ab, zu dem ein grundloser und sträflicher Optimismus gehört. So habe ich im Jahre 1940 , als in Frankreich alles verloren war und wir um unser Leben flohen und der Triumph des Weltfeindes für alle Zeiten gesichert schien, trotz allem nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß unsere Sache zuletzt siegen werde. Als sträflich bezeichne ich diesen Optimismus deshalb, weil er in dem kindisch überheblichen Glauben wurzelt, daß unter allen Menschen eigens und allein und ausdrücklich mir selbst nichts Endgültig-Böses zustoßen konnte.
Unsere Oberkörper waren frei und bewegten sich nach Belieben, unsere Beine aber waren in den Schlamm des seichten Seegrundes eingesunken. Um meine Kräfte nicht unnütz zu verbrauchen, gab ich nach einigen vergeblichen Versuchen schnell die Anstrengung auf, die Füße herauszuziehen. Im Schweren Wasser, dachte ich, sind die Körper leicht. Die Schwimmer im Toten Meer bei Jericho können nicht untergehn. Im Leichten Wasser sind die Körper schwer. Es hat keinen Sinn, zu spekulieren. Auch das ist unnützer Kräfteverbrauch. Um B. H. wach zu halten, begann ich ein Gespräch.
»Ich habe es sofort geahnt: der Animator ist ein Widerspenstiger. Alle Funktionäre hier sind Widerspenstige. Er aber hat mehr als hundert Jahre durchgehalten, obwohl er einen astromentalen Körper besitzt, der nicht immun ist gegen den schwarzen Humus. Mein Körper aber ist nicht astromental und daher immun. Solange du bei mir bist und ich dich anfasse, B. H., kann dir nichts geschehn …«
»Abgemacht und einverstanden, Herr Oberst«, lallte der Todestrunkene. »Wir müssen uns auf die Brücke hinaufarbeiten, das ist alles …«
Nach diesen meinen Worten begann es. Was begann? Es waren Menschen um uns. Diese Menschen drängten sich im Nebel, und ich konnte nicht genau sehen, auf welchem Boden sie standen. Sie standen auf Wasser. Hier und da bekamen sie auch das Durcheinanderspielende von Wasserbildern. Sie
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