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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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der Poesie ausgefragt wurde und was das eigentlich für ein Ding sei, ein Gedicht, und wie man mit Treffsicherheit ein gutes von einem schlechten unterscheiden könne. Am rauchigen Fenster zog gemächlich die reife Sommerlandschaft meiner Heimat vorbei: Ferne Hügel, Dörfer und Saatfelder und immer wieder dasselbe. Mitten unter dem gelben Getreide hob die Julisonne einen kleinen verlorenen Kirchhof hervor, dessen Grabkreuze aufschimmerten. Der Stadtpoet deutete auf dieses Bild mit dem wohlgepflegten Nagel seines Zeigefingers und sagte: »Sehen Sie, meine Herrschaften,
das
ist ein Gedicht …« Und jetzt im Nebel des Mnemodroms grüßte er mich mahnungsvoll, in rhythmischen Abständen seinen Schlapphut schwenkend. – Nicht fern von ihm entdecke ich den Arzt. Ich nenne ihn den Arzt meiner Jugend, obwohl er’s gar nicht gewesen und nur zwei- oder dreimal den bärtigen Kopf auf meine Brust gelegt hatte, um mich im alten Stil abzuhorchen, wenn ich die Schule zu schwänzen gedachte. Dagegen aber führte er uns Jungen auf langen Sonntagsausflügen durch Täler und Wälder, halbnackt wie Silen und lehrte uns mit seiner krächzend lustigen Stimme, Pflanzen zu klassifizieren und geologische Formen zu unterscheiden. Der Pater Exorzist hätte den Arzt meiner Jugend zweifellos zu den »sandalentragenden Naturschwärmern« gerechnet. Verdammt hätte er ihn mit Unrecht, obwohl der Arzt meiner Jugend zweifellos und eingestandenermaßen ein Atheist war. Nur Gott, an den er nicht glaubte, kennt die überströmende Gottesliebe dieses Mannes und seine Getrostheit, die einzig und allein dieser Liebe entströmte. Eines Tages gegen Abend begegnete ich ihm auf der Straße. Er trug einen Rucksack über der Schulter und einen derben Stock. »Ausflug?« fragte ich. »Ja ein längerer diesmal«, lachte er und reichte mir die Hand wie immer. Ich wußte nicht, daß er zu Fuß und freiwillig ins Hospital ging, eine hoffnungslose Operation an sich vollziehen zu lassen, von der er nicht mehr heimkehrte. Und dort stand er nun im Nebel, völlig wie er war, und winkte mir eifrig zu. – Ich habe diese Gestalten der Peripherie ein wenig hervorgeholt, wie sie mir ins Auge fielen. Da aber warteten viele Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende, daß ich sie verabschiede. Und jeder einzelne war so sehr mein, daß ich viele Geschichten über ihn niederschreiben könnte, die Band an Band füllen würden. Es war mein Volk, meine Menschheit, die von mir tückisch durch das Leichte Wasser getrennt werden sollte. Es war mein Volk, ich aber war sein König, und ich wußte plötzlich mit greller Überzeugung, daß sie in meiner Seele leben sollten, solange diese Seele selbst lebt, und daß hier etwas Verbotenes und Verruchtes zu geschehen im Begriffe war. Doch nicht nur Gestalten und Gesichter umrundeten mich. Wie auf einem nicht sehr gut synchronisierten Tonband liefen verwehte Gespräche mit, Geräusche, ja Gerüche.
    Es waren übrigens die banalsten Gesprächs-Fetzen, die sich denken lassen. Das einzig Merkwürdige lag in den oft bis zur Unkenntlichkeit verschollenen Namen und Dingen, die sie enthielten. Frauenstimmen nannten die Preise von Lebensmitteln in Geldsorten, die es nach 1900 nicht mehr gegeben hat. Männerstimmen ereiferten sich über politische Ereignisse und Personen, an die ich keine Erinnerung mehr besaß, obwohl das Leichte Wasser des Mnemodroms diese Szenen und Fakten aus meinem eigenen Innern gezogen hatte und aus sonst nichts. Ich horchte schon freudig auf, wenn der Name König Eduard fiel oder Sarah Bernhardt, die ein Gastspiel gab, und eine böse Greisenstimme sich über die zunehmende Roheit des Zeitalters empörte, da am gestrigen Sonntag mehr als tausend Personen teuere Eintrittsbilletts gelöst hatten, um einem Fußballmatch beizuwohnen. Dazu trabten die Droschken und Fiakerpferde unablässig über nächtliches Pflaster. Es klang, wie wenn aus großen Flaschen langsam Mineralwasser in viele Gläser geschenkt wurde. Tramways läuteten und Lokomotiven pfiffen, Leichenbegängnisse und Militärkapellen näherten und entfernten sich mit Bumbumbum und Tschindera. Und es roch nach schwerem, schwarzen Kohlendampf, und dann roch es nach frischgebranntem Kaffee, und dann roch es nach dem Staub der sonntäglichen Hauptallee, nach Pferdeäpfeln und Kastanienblüten; und jetzt roch es nach Karamellen und nach Schokolade. Diesen Geruch konnte ich sofort lokalisieren. Er gehörte zu einem Hause, in dem sich eine Schokoladenhandlung befand, wo ich

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