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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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hatten aber durchaus nichts von Schemen und Idolen an sich und waren so durchgearbeitet real, daß ich vermutete, sie stünden auf einem Floß oder einer großen platten Barke, die sie hergerudert hatten. Dies aber war auch nicht möglich, da sie uns in einem dichten Kreis umgaben und mit Hüteschwenken und Stimmendurcheinander unsere Aufmerksamkeit zu erwecken suchten. B. H. hatte zweifellos Bekannte entdeckt, denn seine Augen glühten. Der erste Bekannte, den ich entdeckte, war ein alter Herr, der Philosoph Professor H.M., eine freundliche Figur, die oft mit mir gescherzt hatte, als ich ein Kind gewesen. Er war’s, wie er geleibt und gelebt hatte in seinem sackartigen Anzug, das lange und graue Haar zurückgebürstet, mit kleiner Stahlbrille und Bärtchen. Vögel, die er zu füttern pflegte, umflatterten ihn. Die Menschenmenge, die uns umgab, bestand selbstverständlich nur aus Bekannten und nicht nur aus Bekannten, sondern aus sehr nahen Menschen meiner fernsten Vergangenheit. Der empfindsame Leser aber möge es verstehen, daß ich von den sehr nahen Menschen nicht sprechen will, sondern nur einiger gleichgültiger Gestalten Erwähnung tue, die sich mir bemerkbar machten. Das Leichte Wasser des Mnemodroms hatte diese Schar von überaus deutlichen und wahrhaftigen Menschen aus unserm Innern gezogen, und es war vom Animator völlig verfehlt, von einer »Gespensterhorde« zu sprechen. B. H. sah ohne Zweifel ganz andere Leute und vermutlich zehnmal soviel als ich. Merkwürdig war eine gewisse Umdrehung der Zeitfolge. Man könnte ganz gut von einem Zeitnegativ sprechen, in demselben Sinne wie von einem photographischen Negativ.
    Die Menschen der Menge nämlich, die mir zunächst standen und die am schärfsten ausgebildet waren bis zu den Knöpfen der altmodischen Gewänder, die sie trugen, gehörten meiner Kindheit und Jugend an, während ich in den entfernteren und unbestimmteren Reihen diejenigen erkennen konnte, die meinen späteren Lebenspfad geteilt oder gekreuzt hatten. Ganz vorne sah ich sogar einige Männer und Frauen der verschiedensten Stände, die mir vertraut waren, ohne daß ich sie hätte benennen können. Aber selbst der Anblick dieser Unbenennbaren war mir so tief gewohnt, als wäre ich während meines ganzen Lebens (inklusive der Abwesenheit im Fegfeuer) keine Sekunde lang von ihnen getrennt gewesen. Im großen und ganzen ließ sich das Gedränge am besten mit einem imposanten Menschenhaufen auf einem Bahnhofperron vergleichen, der von einem verdienstvollen Landsmann Abschied nimmt, der in die Ferne zieht. Dieser verdienstvolle Landsmann am herabgelassenen Coupefenster war gewissermaßen ich selbst. Nur wurde mir die Situation erst nach und nach bewußt, denn ich war allzu beschäftigt mit Erkennen und Wiedererkennen. Die andern schienen viel eher zu wissen, wieviel es geschlagen hatte. Denn die meisten winkten mir lebhaft zu. Da war ein verrückter Bettler, vor dem ich mich als Kind gefürchtet hatte, der mit feindseliger Geste eine Art Veitstanz des Hasses vollführte. Neben ihm stand ein hochgewachsener schlanker Mann im Stadtpelz, der in rhythmischen Abständen schwungvoll seinen Schlapphut schwenkte. Aber das war ja Doktor S., der große Stadtpoet, der erste wirkliche Dichter, den ich in meinem Leben gekannt hatte. Der große Stadtpoet glich wahrhaftig bis aufs lange Haar einem Dichter, wie man sich ihn um die Jahrhundertwende vorzustellen pflegte, neuromantisch und mit einer formgebändigten Neigung zur Dekadenz. Sonderbar war daran, daß unser Stadtpoet mit seinen eingefallenen Wangen, verwirrten Augen und herabhängendem Schnurrbart sich genau der Vorstellung bewußt war, welcher er entsprach. Er schrieb daher an die Vorstandsdamen der provinziellen Vereine, die ihn zur Rezitation seiner Gedichte einluden, folgendes stereotype Briefchen, dessen Text sich herumgesprochen hatte: »Meine liebe Frau Soundso. Ich treffe dannunddann mit dem Morgenzuge in Ihrer Stadt ein, die ich vom letzten Mal in bester Erinnerung habe. Ich erwarte, von einer Ihrer Damen abgeholt zu werden. Erkennungszeichen: Ich sehe wirklich aus wie ein Dichter.« Für mich aber, den Knaben von einst, sah er nicht nur so aus, sondern war’s. Mit zwölf und dreizehn Jahren erschrak ich voll schamvoller Verehrung, wenn ich dem Barden und Seher unserer Stadt auf der Straße begegnete. Einmal in demselben Jugendalter durfte ich während einer kleinen Reise Zeuge sein, wie er im Zugabteil von einigen Erwachsenen über die Wunder

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