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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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mäßiger Entfernung jene glatte Felswand, welche die Station hieß, weil in ihr die Camerae caritatis landeten. Das nächste Geschehnis kann ich deshalb mit großer Genauigkeit beschreiben, weil es so war, als ginge es in meiner eigenen Seele vor und betreffe mich selbst. Durch irgendeinen astromentalen Akt nämlich spiegelte sich in mir bis zur Schmerzlichkeit all das wieder, was die Ahnfrau zu ihrer unsinnigen Handlung hinriß. Ich spürte die gräßliche Lockung, das Verbot zu übertreten. Ich spürte den herausgeforderten Trotz des Weibes. Ich spürte ihren wilden Hochmut, der nicht an sich halten konnte und der die Mönche, ihre Retter, haßte. Und hinter dem allen spürte ich die Wurstigkeit, der die nächsten Schritte zu viel waren und der vor dem Gedanken an die Auffahrt ins Leben graute. War diese Wurstigkeit schon das Desiderium originis?
    Und so geschah es, daß GR 3 , als wir die letzte Reihe der Nummernzähler erreicht hatten, plötzlich stehenblieb und sich mit Aplomb umkehrte. Einen Augenblick blieb unsere ganze Gruppe stehen, und der Chor brach ab; jedoch nach drei Sekunden erscholl er von neuem kräftiger als zuvor. Ich fühlte einen Stoß und taumelte vorwärts. Obwohl ich die Ahnfrau nicht besonders liebte, hatte ich ihr doch das grüne Seil der Ammen zuwerfen wollen. Es war der Strahlende, der mir’s aus der Hand geschlagen hatte. Die Ahnfrau aber war von der Menge, die zum Wintergarten pilgerte, verschlungen worden.
    Wir erreichten die Station der Brüder vom kindhaften Leben nach einigen Schritten. Alles verlief ohne die geringsten Schwierigkeiten.
    Ob Lalas Urgroßmutter oder nach ihrem eigenen Geständnis Ururgroßmutter auf diese höchst freiwillige Weise das Ziel ihres astromentalen Lebens erreicht hat, das weiß ich nicht mehr. Es wäre ihr aber zuzutrauen, daß sie ihren Entschluß noch einmal geändert hätte.

Fünfundzwanzigstes Kapitel
    Worin ich meinen Freund verliere und angesichts des zerstörten Djebels Zeuge einer heroischen Opfertat werde.
    Der Zustand, in dem wir die Oberwelt vorfanden, überraschte mich nicht sehr, hatte ich doch in meiner eigenen viel schwerflüssigeren Lebenszeit erfahren, daß sich das historisch-politische Gesicht eines Reiches nicht etwa über Nacht, sondern bereits von einer Stunde zur andern so gründlich ändern kann, daß man es nicht mehr wiedererkennt. Ich denke da vorzüglich an das Ende des Ersten Weltkriegs, an die Novembertage des Jahres 1918 , die ich inmitten des geschlagenen Zentraleuropas verbrachte. Auch jener Krieg war durch den Schuß eines fanatischen und ahnungslosen Knaben ausgelöst worden, der einen persönlich wenig bedeutsamen Fürsten hinwegräumte. Da aber damals die Menschen zahlreicher, die Gruppen vielfältiger, die Verhältnisse verzwickter, die Motive chaotischer, die Waffen primitiver waren als so viele Weltalter später, so war’s nur selbstverständlich, daß jener Krieg vier Jahre in Anspruch nahm und nicht rund zwölf Stunden wie der gegenwärtige in fernster Zukunft. Es war übrigens, gemessen an dem sogenannten »Letzten Krieg« von drei, drei Zehntel Minuten, eine recht ausdauernde Kampagne. Man muß aber bedenken, daß er beiden Parteien aufgezwungen war, sowohl der Panopolis als auch dem Dschungel, und die Schuldigen, jene törichten Waffensammler, nur über die holprige Organisation von Verschwörern verfügten. Wenn ich, als ein flüchtiger Besucher der Zukunftswelt, auch nur imstande bin, den nackten Anlaß und nicht die tieferen Gründe klarzulegen, so waren diese tieferen Gründe nichtsdestoweniger vorhanden, mochten sie auch nur in der polaren Spannung des Gegensatzes zwischen Panopolis und Dschungel liegen. (Daß ich alles zukünftige Geschehen nur unter einer starken Farbenbrechung, das heißt Wesensverzerrung und -verzeichnung zu sehen vermochte, das habe ich vor dem Leser schon mehrfach bekannt.)
    Ein alter Spruch sagt: Veritas vincit. »Die Wahrheit siegt.« In diesem Spruch steckt eine protestantisch idealistische Überschätzung der irdischen Verwirklichung. Gewiß, am Ende aller Menschheitstage wird die Wahrheit gesiegt haben. Bis dahin aber geschieht zumeist das Umgekehrte: Victoria verifacit. »Der Sieg macht wahr.« Jede historische Epoche spiegelt das Gesicht dessen wieder, der zuletzt gesiegt hat. Das galt auch hier. Die Mitternacht mochte nicht fern sein, als wir irgendwo in der Nähe der »Ehemaligen Unterstadt« auftauchten. Der dichte astromentale Sternenhimmel wölbte sich über uns. Die

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