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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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fürchtete ich mich. Da wäre vielleicht die Retrogenese besser gewesen. (Haha, endlich kommst du der großen Errungenschaft auf den Geschmack. So ist es mit allen Fortschritten. Der alte Konservatismus entpuppt sich am Ende als Gewohnheits-Meierei.)
    »Ich kenne diese Treppe«, sagte die Ahnfrau, »und ich hoffe, daß niemand von mir glaubt, ich fürchte mich …«
    »Kein Grund zur Furcht, Mütterchen«, erwiderten einige der Brüder. »Sie werden emporschweben wie ein Engel, Mütterchen …«
    »Ich verbitte mir das«, rief GR 3 erzürnt. »Ich bin für Sie kein Mütterchen und kein Mütterlein. Ich bin eine Urgroßmutter, und auch das ist nicht ganz richtig, denn ein Ur hab’ ich gestrichen …«
    Die Fratres erzhählten, daß sie manchmal gezwungen seien, die große Treppe vier- oder fünfmal hintereinander auf und ab zu steigen. Während all dieser Reden und Gespräche merkten wir kaum, daß wir schon einige Windungen zurückgelegt hatten. Zwei Mönche hatten die Uralte in die Mitte genommen und trugen sie. Hinter mir und B. H. ging je ein Bruder, der uns mit starken Händen voranschob. So wurde die Besteigung zum reinen Vergnügen. Ein Teil der Mönche blieb zurück. Es geschah wegen der Nummernzähler, die den Rückweg nur für die zwölf Mönche freigaben, die stets abgelöst wurden, um wieder aufzufahren. Eine Stimme sang ziemlich guttural:
    »Geliebte Männer und Frauen,
    Wir Brüder vom kindhaften Leben,
    Wir kennen kein Vorwärtsstreben
    Und kennen kein Rückwärtsschauen …«
    »Der größere Teil liegt längst hinter uns«, sagte der Strahlende plötzlich. »Aber das ist doch gar nicht möglich«, wunderte ich mich, ganz aufrichtig, »wir haben doch kaum mit dem Aufstieg begonnen.«
    »Das kommt daher«, lachte der junge Prior, »daß wir Sie unausgesetzt lehren, nicht an die nächste Windung zu denken.«
    Es war völlig wahr. Die Mönche entwickelten einen physischen und psychischen Rhythmus von solcher Macht, daß sie B. H. und mich zu unbedenklich freudiger Hingabe an die Tätigkeit des Treppensteigens zwangen. Mein guter Freund sagte plötzlich:
    »Wie schade, daß wir bald am Ziel sein werden. Ich wollte, die große Treppe ginge noch höher.«
    »Das hören wir immer von unsern Klienten«, nickte der Strahlende, der die Nachhut unserer kleinen Schar bildete. Und er fügte hinzu: »Da wir jetzt sogleich die Hauptstraße erreichen werden, bitte ich um folgendes: Wir bleiben dicht beisammen. Wir reden nicht. Wir drehen uns nicht um.«
    Diese Straße war, wie man es uns angekündigt hatte, mit dichten Menschenmengen erfüllt, die in die Richtung des Wintergartens strömten. Die Menge war so groß, daß von Zeit zu Zeit Stockungen eintraten und die Flut erstarrte. All diese verrückten Leute zogen eine vorzeitige Retrogenese dem Leben in einer durch den modernsten Krieg gefährdeten Welt vor, nicht anders als Io-Fagòr und die Seinen, die freilich dieser Plebs vorangeeilt waren und sich dadurch eine rasche und prompte Bedienung durch Animatoren, Gärtner und Badediener gesichert hatten. Die Neukommenden hier würden zweifellos sehr lang auf ihr selig-unseliges Ende zu warten haben. Die Weißbekittelten lehnten nicht mehr teilnahmslos am Geländer der Straßenbrücke, sondern bildeten Kordons mit dem Rücken gegen den Strom. Der Strahlende zwinkerte mir entzückt zu. Die Situation war günstiger denn je. Wir drängten uns fest aneinander, um in unsern Kutten einen dicken Haufen zu bilden. Die Mönche stimmten einen schallenden Chor an, der in seiner Kraftfülle zum stygischen Raum im trotzigen Widerspruch stand. Wir drangen in unserer Geschlossenheit gegen den Strom vor, wie ein Schiff mit scharfem Bug. Die Mitte bildete die Ahnfrau. Dicht hinter ihr kamen B. H. und ich. Die Mönche kreisten uns ein. Obwohl die Ahnfrau die Treppe emporgetragen worden war, machte sie jetzt einen grauen Eindruck. Ich muß gestehen, sie erschien mir alt, ohne Beschönigung alt. Dieses Altsein äußerte sich aber nicht in Schwäche, sondern in einer fühlbaren Grimmigkeit, die von ihr ausging. Ich selbst wurde durch ihren Zustand unruhiger von Augenblick zu Augenblick.
    Soeben hatten wir den ersten Kordon der Nummernzähler passiert. Der muskulöse Chor der Mönche bahnte uns einen Weg durch die Weißbekittelten, die, unangenehm berührt durch die Stimmkraft des kindhaften Lebens, beschämt wegschauten. Nur noch eine solche Reihe von Wächtern hatten wir vor uns, und dann war das Spiel gewonnen. Wir sahen in

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