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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Xenospasmen. Der tellurische Mittelpunkt, wo sie sich ihrem Heimweh nach dem Unendlichen hingeben konnten, war ihnen genommen. All diese Gestalten waren von der astralen Podagra verkrümmt und verkrüppelt. Sie sahen mit ihren flügelhaft hochgezogenen Schultern nicht nur wie hockende Adler aus, sondern ihre Rümpfe waren so verknorrt, daß sie den kurzgestutzten oberitalischen Ulmbäumen glichen. Ich habe nicht gezählt, wie viele es waren, ob zwanzig oder mehr. Sie schwiegen jedenfalls zumeist bis auf einen. Dieser eine war zweifellos der Hervorragendste, der Obmann des Komitees, ein Mann mit knochigem Gesicht und schweren, nur halbgeöffneten Augendeckeln, der eine leise Stimme hatte und sich beim Sprechen nicht bewegte. Ich nenne ihn den Gleichgültigen, obwohl ich nicht weiß, ob er’s wirklich war. Er verriet jedenfalls keine Spur von Teilnahme.
    Die Gleichgültigkeit des Gleichgültigen trat deshalb beinahe als Energie hervor, weil sie sich von der Erregung des Hocherregten abhob, der wie ein Rasender auf ihn und die andern Xenospasten einredete, während er mit dem Geographiezeigestab in der Luft herumfuchtelte. Der Hocherregte war der einzige cholerische Typus, der mir unter den gebändigten und verhaltenen Astromentalen begegnet war. Er hatte sogar im Grauen Neutrum und im Kleinen Intermundium seinen Zorn nicht bemeistern können, wenn ihm eine Extravaganz gegen den Strich ging. Ich glaube nicht, daß ich es eigens aussprechen muß, um wen es sich handelt. Die Erregung unseres lieben Elementarlehrers und guten Pädagogen war jetzt freilich von ganz anderer Art als der übliche Lehrergrimm, den wir an ihm kennengelernt haben, jene rasche höhnische Empörung, hinter der stets nur gekränkte Güte steckte. Was jetzt dahinter steckte, war etwas furchtbar Ernstes, das sich als fassungslose Verzweiflung offenbarte. Auf seinem Blankschädel perlten trotz der kühlen Nacht die Schweißtropfen, sein Gesicht war bläulich und eingesunken, seine Augen rot, und er lief wie ein Verrückter im Kreis herum, ohne den hohen Xenospasten jene Ehrerbietung zu erweisen, die ihnen gebührte.
    »Habe ich nicht Schüler genug«, schrie er, »wendige, geschmeidige Jungens genug, die durch ein Nadelöhr schlüpfen können? Da sind Io-Rar und Io-Hol, meine besten, meine Renommier-Eleven, die Antworter und Eins-A-Kometenturner. Da ist Io-Schram und zehn andere Fortgeschrittene, sehr pfiffig zumindest im physischen Betragen und dazu grobe Naturen, die ich ohne weiteres durch den Sonnenglobus und durch jedes andere Lichtgestirn durchzujagen bereit bin! Da sind, was rede ich, bin ich der einzige Lehrer, gibt’s neben der meinen nicht hunderteinundsiebzig Elementarklassen? Und unter so vielen Klassen ist man gerade auf meine verfallen und unter all meinen Schülern gerade auf …«
    »Man ist auf niemanden verfallen«, unterbrach der Gleichgültige den Hocherregten. »Der Knabe hat sich freiwillig zum Opfer gemeldet …«
    »Der Knabe kennt ja gar nicht die Bedeutung dieser Worte ›freiwillig‹ und ›Opfer‹. Der Knabe kennt nichts als den Übermut seines Talents, das ihn zu jeder Tollheit hinreißt …«
    Der Gleichgültige entgegnete unerschütterlich:
    »Das freiwillige Opfer wird nicht geringer dadurch, daß es unbedacht oder halbbedacht ist …«
    »Man hätte es nicht annehmen dürfen«, schrie der Lehrer, »man hätte den dummen Jungen in den Winkel stellen sollen …«
    »Nun aber ist es angenommen«, murmelte die gelassene Stimme, »und der Preis des Opfers ist wahrhaftig hoch genug …«
    »Das Opfer wird vergeblich sein, und der dumme Junge wird nicht wiederkommen …«
    Der Chor der grauen hockenden Vögel brummte:
    »Vielleicht wird er nicht wiederkommen. Vielleicht wird er wiederkommen …«
    Da erkannte mich der Lehrer, spät genug, und stürzte sich auf mich.
    »Helfen Sie, Seigneur, helfen Sie um Gottes willen, Sie kennen ihn ja …«
    »Wie soll ich helfen«, sagte ich leise. »Ich konnte nicht einmal meinem Freunde helfen …«
    »Aber Sie kennen den Kleinen doch …«
    »Ich vermute, Sie sprechen von dem grazilen Sternentänzer, dem man den Spitznamen Io-Knirps gegeben hat …«
    Der Lehrer sah mich stumm an, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er zeigte mit einer langsam-trostlosen Handgebärde auf den Geschoßtrichter, aus dem immer stärkerer Qualm aufstieg. In die tragische Stille hinein, die diese Geste aussparte, ertönte die müde Stimme des Gleichgültigen:
    »Wenn der Kleine nicht

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