Stern der Ungeborenen
Kosmos-Menschen, des Himmels-Menschen, der unsrigen auch nicht voll entsprechen mag, so bitte ich, halten wir uns zwei Minuten lang an letztere. Von bewegten Systemen der Atome aus betrachtet, die ihn bilden, umfaßt auch unser kleiner Körper schier unendliche Zeiträume und Raumzeiten. Einen Erdumlauf um die Sonne nennt man ein Jahr. Nennen wir den entsprechenden Umlauf in einem Atom auch ein Jahr. Wieviel Jahrbillionen liegen zwischen einem Atom unserer Fußsohle und einem auf unserer Kopfhaut? Und doch, unser Körper ist in sich gleichzeitig. Er ist es aber nur, solange er lebt, solange er beseelt ist. Weicht die Seele von ihm, so verliert er sofort seine innere Gleichzeitigkeit. Er zerfällt in Milliarden Heterochronismen. Ja der Tod ist recht eigentlich nichts anderes als die Verwandlung der Isochronie in Heterochronie, der Gleichzeitigkeit des Seins in Verschiedenzeitigkeit. Und hier nähere ich mich – wenn meine Hypothese richtig ist – dem Wesen des Isochronions. Auch das Weltall, der Kosmos-Mensch, der Himmels-Mensch war beseelt, d.h. seine durch Jahrmilliarden voneinander getrennten Teile waren kraft des Willens und Bewußtseins gleichzeitig. Das Isochronion schien ein unbekanntes Hilfsmittel zu sein, um das atomare Bewußtsein des Erdenmenschen in das Allbewußtsein des Himmelsmenschen einzuschalten, die irdisch-winzige Verschiedenzeitigkeit in die Gleichzeitigkeit des Ganzen verströmen zu lassen. Für den Eingeweihten, der das Isochronion anzuwenden verstand, gab es daher kein Nacheinander mehr, sondern nur ein unendliches Miteinander, eine Simultanität über alle Fassungsgrenzen. Seine Seele enthielt in jedem Augenblick alle Assoziationen und alle Zusammenhänge in der Natur, das Fallen eines Lindenblatts vor Jahrtausenden, die Explosion eines Lichtgestirns in Jahrmillionen. Das Isochronion – was immer es enthielt, eine Formel, ein Tröpfchen, ein Korn, einen Geruch –, es erweckte das enge Bewußtsein des Erdenmenschen zur Allgegenwärtigkeit, zum Allwissen, zum Allverstehn des Himmelsmenschen. Wahrlich, in diesen Begriffen liegt das letzte Ziel der wissenschaftlichen Bemühungen, und ich verstand den grauen Gleichgültigen sehr gut, daß er den drei bestehenden Lamaserien der Chronosophie eine vierte hinzufügen wollte, vermutlich die zusammenfassend-prächtigste. Meine Spekulation über das Isochronion nähert sich der Wahrheit, ich zweifle nicht daran. Und doch, das ganz und gar Neue und Unbekannte jenseits der eigenen historischen Grenzen nur zu erdenken, ist niemand imstande. Auch uns, in den Anfängen der Menschheit, war dieses Einschalten des Individual-Bewußtseins ins Universalbewußtsein, dieses Verströmen der Heterochronie des Menschen in die Isochronie des Weltalls nicht ganz fremd. Wir nannten diese Erscheinung Inspiration. Sie trat freilich nur blitzhaft auf, als Entladung einer psychischen Spannung, als elektrischer Kurzschluß der Seele gewissermaßen, zufallsbefangen, eine jähe Ekstase, ein herzsprengender Rausch, ein greller Anfall von Einheitsgefühl. Ihre abgeschwächte Spur blieb zurück in Erkenntnissen, Gedichten und Melodien. Die Chronosophen aber gaben sich mit flüchtiger Inspiration nicht zufrieden. Diese mochte ausreichen für die Autoren des Sympaians, aber nicht für sie. Ihr Streben ging dahin, die Union zwischen Ich und All zu einem dauernden, dem Willen unterworfenen Zustand zu machen, der die Vergangenheit und die Zukunft, die Geschichte und die Utopie, die Erinnerung und die Ahnung aufhebt und den Menschen endlich in jene Dimension stellt, die er am genauesten zu kennen wähnt und am wenigsten kennt, in die Gegenwart, das heißt in die wirklichste Wirklichkeit. Während ich, an der Übertragungskraft der Sprache verzweifelnd, an meinem Schreibtisch diese wichtigen Sätze über die gewaltigen Ziele der chronosophischen Wissenschaft niederschreibe, höre ich mich selbst seufzen: »Oh, wie würde mir die Arbeit an meinem Reisebericht leichtfallen, besäße ich das Isochronion!«
Auf der kristallinischen Plattform des zerstörten Djebels aber war ich längere Zeit ziemlich geistesabwesend, da einige der obigen Gedanken mich gefangen nahmen. Ich bemerkte nur halb und halb, und das mit einer leichten inneren Mißbilligung, daß die greisen Fremdfühler an der Rampe sich nun umgekehrt hatten und zum Himmel starrten, wo der Uranograph eine neue Verlautbarung zusammenhüpfen ließ, die verkündete, daß vor wenigen Minuten die letzten Verschwörer unschädlich
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