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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Furchtbare, daß er nicht ganz hinfiel. Er hatte ja gar keine Zeit zum Hinfallen. In der halben Sekunde zwischen Straucheln und Hinfallen hatte ihn der Fernsubstanzzertörer, dieses lächerliche Blasrohr eines verdammten Altertums, völlig in Nichts aufgelöst. Er war nicht nur unsichtbar, wie ich’s einst gewesen, sondern ganz und gar nicht mehr vorhanden, mit all seinen gesunden sechsundzwanzig Billionen Zellen ausgerottet bis zur letzten! Ich brauchte lange, um zu fassen, was da geschehn war. Sein Vorwissen hatte ihn nicht betrogen. Daß ich noch einen Körper besaß, war ein Rechenfehler. Ich hatte mich durch eine unvorhergesehene Ungebärdigkeit (das Losreißen) gegen alle Regeln gerettet. Ich bedauerte es tief in diesem Augenblick. Trostlos ließ ich mich auf die Erde fallen. Mit unentrinnbarer Wucht erdrückte mich dieses Wissen: Ich bin allein auf der Welt.
    Ich hatte meinen Freund verloren, aber ich war nicht allein auf der Welt. Eine Schar junger Leute, die Zeuge des Schrecklichen gewesen, liefen auf mich zu und nahmen mich in die Mitte. Ich erkannte sie sofort an ihren sehnigen, astral durchgebildeten Gestalten. Sie gehörten der Lamaserie der Astropathetiker an, jenen Gymnasten, welche das Wesen der näheren Lichtgestirne und ihrer Konstellationsbilder in pantomimischen und akrobatischen Darstellungen widerspiegelten. Sie kondolierten mir nicht, sie entsetzten sich nicht, sie machten keine langen Sprüche, sondern begannen sofort einen Reigen.
    »Schmerz«, sagte einer, »ist Stillstand von Bewegung.«
    »Heilung«, respondierte ein anderer, »ist Wiederaufnahme von Bewegung«.
    »Hoppla, Seigneur«, flüsterte ein dritter dicht bei mir, »Nachgeben, Entlasten, Anlehnen …«
    Ich berührte die Erde kaum, als ich von ihnen gestützt über die Fläche dahinlief. Es ist notwendig, hier einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen. Der Rundflug, oder besser, das Rundschweben, das ich nunmehr mit Hilfe der jungen Astropathetiker über das weite sternglänzende Trümmerfeld des Djebels unternahm, hatte nicht das geringste zu tun mit dem allbekannten »Traumfliegen« oder »Traumschweben«, das jedermann dann und wann nächtlicherweile erlebt. Ich muß wiederum mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß alle dergleichen Erfahrungen, so ungewöhnlich sie uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts anmuten, keine Traumbilder sind, sondern unbestreitbare Realitäten des Elften Weltengroßjahrs der Jungfrau. Ich spreche somit von keinem Traum, ja nicht einmal von einer Vision, sondern von einem faktischen Flug über die Ruinen des Djebels, für welchen, was man mir in Erinnerung an die entsprechenden Kapitel aufs Wort glauben wird, die Astrogymnastiker keine anderen Maschinen brauchten als ihre eigenen Körper. Ich selbst wurde von den Jünglingen so mühelos getragen, als sei ich eine Flaumfeder. Und ich war auch nicht viel schwerer. Die Erklärung lag darin, daß durch die Zerstörung die verschiedenen regulierten Gravitationen innerhalb des Djebels sich gegenseitig zu einer überaus geringen Gravitation aufgehoben hatten, die in dem Luftreich herrschte, das wir nun durchmaßen. Wir flogen in mäßiger Höhe dahin. Aber diese Höhe und das Sternlicht waren ausreichend genug, daß ich den ganzen Umkreis des zertrümmerten, gewaltigen künstlichen Berges überblicken konnte. Ich schrie beinahe auf vor Erstaunen:
    »Aber der Djebel ist ja ein Auge.«
    Meine jungen Flugbegleiter schienen zu lächeln:
    »Haben Sie das nicht gewußt? Der Djebel ist Gäas Auge.« Und einer fügte traurig hinzu:
    »Es war Gäas Auge …«
    Kein Zweifel! Gäas Auge, das zerstörte Auge des Erdplaneten, das ihm vor Zeiten der Mensch eingesetzt hatte, damit er bewußt hinausschaue in den Weltraum. Ich konnte von der Höhe, die wir in einem milden Luftzug durchschwebten, ganz genau die einzelnen Teile dieses Auges unterscheiden. Da war vor allem der riesige Augapfel, frei aufgehängt und beweglich in einer kreisrunden Erdenhöhle. Die vordere Grenzspalte dieser Erdenhöhle war bedeckt mit der flaschengrünen, eisartigen Decke, die es möglich machte, daß man sich dem eigentlichen Berge, dem Augapfel nähern und durch die zahlreichen Tore sein Inneres betreten konnte. Von oben angeschaut war dieser kristallene Globus des Auges nicht nur nicht ganz zerstört, sondern in seiner Form viel deutlicher erhalten, als man im Tal beurteilen konnte. Es ließen sich unterscheiden Hornhaut, Iris, Netzhaut und Pupille, soweit diese organischen Gebilde

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