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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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entwickelten, späteren sein, der isochronischen, für die der Schuljunge hier starb, den ich in meinen Armen trug. Aber davon weiß ich nichts mehr.
    Der Jude des Zeitalters stand zwischen zweien seiner Enkel. Es waren Knaben an der Grenze des Jünglingstums, noch nicht voll erwachsen. Sie trugen weiße Burnusse, mit welchem nicht ganz zutreffenden Ausdruck ich die Gewandung der Mühseligen und Beladenen schon weiter oben bezeichnet habe. Beide hatten unruhig forschende Schwarzaugen und zeigten ein verschämtes, sanftes und etwas tolpatschiges Wesen. Sie waren die Heilgehilfen Saul Minjonmans, dazu hatte er sie ausgewählt und erzogen. Zu solchen Diensten früher hatte sein Io-Joel, der Goldjunge, nie getaugt. Der Stamm Minjonmans zerfiel übrigens in zwei charakteristische Gruppen. Die Aufmerksamkeit beider Gruppen war in continuo auf das menschliche Leiden gerichtet; die harmlosere beschäftigte sich mit der Heilung des heilbaren Leidens, die andere, gefährlichere, mit der Wiederherstellung der unheilbar verletzten Gerechtigkeit. Wurde ein neuer Minjonman geboren, so wußte der Stammvater schon nach wenigen Tagen, ob er zum ärztlich-ausgleichenden oder zum juristisch-querulierenden Typus à la Io-Joel gehörte.
    Die Menge, die uns folgte, Astromentale, Dschungelleute, Kinderreiche, Mühselige und Beladene, war zu Tausenden angewachsen. Ich konnte in den Augen König Sauls einen geheimen Ausdruck von Furchtsamkeit und Abscheu vor der Menge bemerken. Er ließ den Lehrer und mich durch einen schmalen Spalt der Pforte eintreten, die er sofort hinter uns zuschloß. Er vergaß jedoch nicht, obwohl es durchaus den Tatsachen widersprach, das Täfelchen »Auf Wanderschaft« unter sein Namenschild zu hängen. Im Zeitalter des Reisegeduldspiels war der Begriff »Wanderschaft« natürlich sinnlos, wenn man unter ihm nicht innerliche und willensmäßige Abwesenheit verstand.
    Io-Saul führte uns tief hinab in sein Haus. Wir mußten eine ganze Flucht von vollgepfropften Räumen durchqueren, ehe wir in ein Gemach gelangten, das ich frei heraus das Ordinationszimmer nennen will. Es herrschte hier ein grell künstliches Übersonnenlicht, das an den Lichtgrad des Johannes Evangelist erinnerte. Der Raum war ganz leer, bis auf den großen glasartigen Tisch in der Mitte. Die astromentale Medizin, nicht einmal die erinnerungsreiche Medizin Minjonmans, kannte keine Apparate mehr, keine Instrumente, keine Flaschen, Fläschchen, Schläuche, Gummiwaren, Eprouvetten u.s.w.
    Die beiden halbwüchsigen Heilgehilfen legten den bewußtlosen Knaben auf den Tisch, nachdem sie mit unglaublich zartem Schmerzverständnis die nassen Schleier abgenommen hatten. Da lag er nun, vom Hals bis zu den Füßen mit schrecklichen Brandwunden zweiten und dritten Grades bedeckt, von denen meine Augen sich feige wegwandten. Minjonman aber blieb sehr lange stumm über diese Wunden gebeugt, dann sagte er:
    »Das Schlimme ist, daß ich den Schmerz nicht wegnehmen kann.«
    Der Planetenlehrer flehte ganz ernsthaft und naiv:
    »Nehmen Sie ihm die Schmerzen fort und geben Sie mir die Schmerzen …«
    »Einer der Enkel hatte eine Schale mit einem honigartigen Balsam hereingebracht. Es war sonderbar, wie aus Minjonmans vollgeschöpften Händen dieser Balsam auf die Wunden träufelte und sie in suchenden Rinnsalen langsam zudeckte, als handle er selbst vernünftig und willensvoll. Leider kam der Sternentänzer während dieser Behandlung zu sich und begann leise zu wimmern. König Saul aber flüsterte in unnachahmlich suggestiver Weise mit ihm, so daß der Knabe ruhig wurde und nach einer Weile sagte:
    »Aber ich hab doch geglaubt, es wird eine ganz große Hetz sein und eine extra Extravaganz …«
    »Da haben Sie’s«, brach der Lehrer los, ohne das Schluchzen in seiner Stimme ganz beherrschen zu können. »Nichts als Allotria, Aberwitz und Übermut …«
    Saul Minjonman wandte den Kopf erstaunt dem Pädagogen zu: »Kennen Sie«, fragte er, »einen bessern Grund für eine pathetische Tat als Übermut?«
    Der Knabe aber versuchte trotz der Höllenschmerzen, sich zu entschuldigen:
    »Ich bin doch der Kleinste und Dümmste. Ich mußte es doch tun. Ein andrer wär’ gar nicht durchgeschlüpft, nicht einmal der Io-Schram …«
    »Nicht reden«, mahnte König Saul.
    Doch Io-Knirps machte einige rasche Atemzüge und stieß hervor:
    »Und ein andrer hätte das Ding im Comptoir auch gar nicht bekommen …«
    Nach diesen Worten brach er in lange Schreie aus, denn die Qualen

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