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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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überwältigten ihn. Mein Blick krampfte sich an Minjonman fest. Wird er leben? fragte mein Blick. Die wirkliche Antwort war auch nur ein Blick. Doch er sagte alles:
    »Die Schmerzen werden bald vorüber sein«, murmelte Io-Saul.
    Inzwischen hatten die Heilgehilfen den Knaben auf eine leichte Tragbahre gelegt und mit einem kühlenden wachsartigen Stoff zugedeckt. Ohne daß ein Wort fiel, verstanden sie genau die Befehle Minjonmans. Der Knabe aber rang wieder nach Worten:
    »Herr Lehrer … Herr Lehrer«, stöhnte er.
    Der Lehrer kniete neben ihn hin. Ich sah, wie er tapfer gegen seine Tränen und um eine ungerührte Pädagogenmiene kämpfte:
    »Hier bin ich. Schütten Sie Ihr Herz aus, Schüler Io-Knirps …«
    »Werde ich hundertmal an die Tafel schreiben müssen: ›Ich soll nicht‹ …«
    »Nicht hundertmal, sondern zehntausendmal, mein Liebling, Gott wird mich erhören …«
    »Was geschieht?« fragte ich leise Minjonman.
    »Man wird ihn dahinbringen, wohin er gehört.«
    »Und wohin gehört er?«
    »Zu seiner Religion, zu seiner Väter-Rückverbindung …«
    »Ich verstehe, Sie meinen, er gehört hier ganz in die Nähe, zum Großbischof …«
    Ehe König Saul noch etwas drauf sagen konnte, wurden wir unterbrochen.
    Io-Joel Hainz stand vor uns. Und nun erfolgte von allen schwerwiegenden Gesprächen, die in der menschlichen Geschichte je stattgefunden haben und je stattfinden werden, das kürzeste. Ja, man kann von diesem Dialog ruhig behaupten, daß es einen einsilbigeren seiner Art nie wieder geben wird, denn er bestand genau aus zwei Silben:
    »Froh?« fragte Saul.
    »Teils«, sagte Joel.
    In dem langgezogenen, zugleich schweren wie spöttischen Klang von Sauls »froh« steckten freilich so manche unausgesprochenen Sätze: Bist du froh und zufrieden, mein Sohn, daß die Umwälzung, die du so lange gepredigt hast, nun über uns gekommen ist? Deine Rolle war, wie ich genau weiß, nicht besonders erhebend. Ein Agent, ein Dolmetsch, ein Kiebitz? Und wie sieht es mit der Erneuerung aus? Wer ist erneuert? Deine Erneuerung ist nichts als eine schmutzige Vermischung. Es sind erniedrigt, die es verdienen, und es sind erhöht, die es nicht verdienen. Statt einer kläglichen Ordnung haben wir eine kläglichere Unordnung, die schnell zur bösen Erstarrung werden wird. Und morgen schon ist das Neue wieder das Alte und ein Grund für dich, nach einem neueren Neuen zu streben. Froh?
    Diese Worte ungefähr entnahm ich der einzigen Silbe und dem traumsamtenen Spottblick des Vaters.
    Io-Joel, der Sohn, war übermächtig blaß. Seine wimperlosen Augen waren sehr rot, und auf der leicht albinösen Gesichtshaut traten viele Sommersprossen und Flecke hervor. Sein einsilbiges »teils« hatte er mit pedantischer Gleichgültigkeit vor sich hingesprochen, ohne den Vater anzusehn. Mir aber blieben folgende Geständnisse, die dieses »teils« enthielt, nicht verborgen: Ich werde dir nicht die Freude machen, alter Jude, mich geschlagen zu geben, obwohl ich mich so seekrank fühle, als hätte mich selbst eine Erfüllungs-Enttäuschung getroffen. Ich werde dir auch nicht die Freude machen, dir zu zeigen, daß ich diesen ganzen Tag um dein Leben gezittert habe. Außerdem ist nichts verloren, wenn man ein Realist ist und die Menschen für das hält, was sie sind: ein böses Pack, dessen größte Lust es ist, den andern Unlust zu bereiten. Ich bin genau dasselbe. Und deshalb muß die Welt auch nach der soeben stattgefundenen Erneuerung weiter erneuert werden. Es lebe die Verwandlung.
    Dieses Gespräch dauerte nur solange als zwei gedehnte Silben dauern. Io-Saul Minjonman aber richtete sich auf und befahl seinen Sohn mit einer Autorität und Würde, die keinen Widerspruch möglich machte:
    »Tritt hinter mich und folge mir!«
    Die Heilgehilfen nahmen die Tragbare mit dem Knaben auf. Voran schritt König Saul. Der Lehrer und ich gingen rechts und links von dem Stöhnenden. Io-Joel Hainz beschloß den Zug.
    Während wir uns durch die mit antiken Erinnerungen vollgestopften Räume des Hauses zwängten, murmelte König Saul, indem er seinen Mantel über den Kopf zog, ein Gebet, von dem ich wellenweis hier und da eine Strophe verstand:
    Unser Vater, unser König!
    Ich gehe voran, und ich folge der Bahre aller Zeitgenossenschaften.
    Denn ewig währt Deine Gnade, die mich absondert.
    Unser Vater, unser König!
    Sie hassen und verachten mich von Abraham bis auf diesen Tag,
    Sie schauen zur Seite und möchten mich los sein,
    Denn ewig währt Deine

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