Stern der Ungeborenen
unaufhörlich Bewegten durch den Raum gefahren wird, ist nichts verloren. Und das ist die vererbte Situation unserer Familie, der Familie Sonne. Wohin fahren wir bitte? Wir fahren zu Großmama, mein liebes Kind. Ist Großmama die Ahnfrau? Pfui, dummer Bub, Großmama ist keine jugendschöne Perverse, sie ist eine runzlichte Alte voll Schnurren und Geschichten. Hat Großmama noch immer einen Kropf? Pfui! Wer redet so offenherzig? Nein, es ist die ältere Großmama, die älteste Großmama. Ach, ich sehe sie dort, mit ihrem glatten Mittelscheitel, den lustigen Märtyreraugen und dem schmalen Mund. Großmama, warum hast du so lustige Märtyreraugen? Damit ich besser um dich weinen kann. Großmama, warum hast du so einen schmalen Mund? Damit du die letzte Sprache des Menschen leichter verstehen lernst. Was geschieht mit mir? Das ist ja ungeheuerlich. Schon habe ich die letzte Sprache des Menschen erlernt, die seine erste ist. Es ist wahrlich nicht die Monolingua, dieser Mischmasch, dieses Esperanto aus dem mentalen Oberstübchen. Nein, nein, hebt die Schalltrichter der Trompeten hoch, ich spreche die
Protoglossa,
die Sprache des ersten Schöpfungstages, die den Wasserstoffatomen noch in den Ohren gellt. Ich habe sie verstanden, die Protoglossa, in meinem Köpfchen, als mir die Hebamme auf den Rücken schlug. Und ich habe sie wieder verstanden, die Protoglossa, als man mich zurechtmachte zum letzten unfreiwilligen Gang, der ein Gefahrenwerden war. Wie herrlich ist sie doch, unsere Protoglossa. Sie liegt jenseits der Zullersprache und der Schnullersprache und des Windelnässeridioms. Sie liegt jenseits alles Ohnmachtlallens und Narkosehallens und des schnell geschmolzenen Todesschreis. Sie ist der rote Faden, den Altgroßmama auf ihr Canevas von Organdin stickt, ja, von Organdin. Jetzt aber muß ich mich hüten, zu tief in die Protoglossa zu geraten, wie alte Emigranten, die immer wieder rückfällig werden, weil sie die Sprache ihrer neuen Umgebung nicht mehr erlernen können. Gescheit sein und bei der Monolingua bleiben, das ist meine Pflicht. Ich gehe euch nicht auf den Leim und trete auf keine Falltür. Weiterfahren, bitte. Das heißt: bitte, weitergefahrenwerden. Wie arm sind sie mit ihrem mentalen Reiseverkehr. Einen Stations-Chef brauchen wir mit roter Kappe, mit einer Signalscheibe dazu oder einem kleinen Horn, das zur Abfahrt mahnt. Ja, wir sind Kinder der Eisenbahn per saecula saeculorum, und weiter werden wir’s nicht bringen. Dort, der Dreijährige, der ich bin, starrt noch immer zum Viadukt empor und ruft in der Zullersprache der dampfenden Lokomotive begeistert zu: »Machina!« Die Kinder der Eisenbahn wissen, daß alle Finsternis vom Tunnel kommt und daher vorübergeht. Und wer ein Fürchtegott ist, wie ich, ein Christian Fürchtegott Liebfreud, dem dämmert’s schon inmitten des Tunnels. Hinterm Tunnel aber liegt der Park des Arbeiters. Und dahin geht mein erster Weg heute. Und wenn ich auch unter der Erde liege und ins Dunkel starre, so weiß ich doch, daß die Sonne aufgegangen ist. Denn wo anders könnte die Sonne aufgehn als in mir …?
»Der Wecktrunk erwartet uns«, erklang B. H.’s frische Stimme.
»Es ist nur ein Morgentrunk«, antwortete ich, »denn du siehst, ich habe standgehalten und brauche nicht geweckt zu werden.«
Ende des Ersten Teils
Zweiter Teil Zweiter Tag
Djebel und Dschungel
Motto:
Was habe ich zu versäumen?
Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?
Gotthold Ephraim Lessing in ›Die Erziehung des Menschengeschlechts‹, 1778 .
Zehntes Kapitel
Worin ich den Park des Arbeiters besuche, von ihm im »Tal der Quellen und Kräfte« bewirtet werde und an dem Tanz der taubengrauen Bräute teilnehme, bis mich eine dunkle Gestalt abberuft.
Nur wer die Naturfarbe grün einige Zeit lang entbehrt hat, weiß, was sie für die menschliche Psyche bedeutet. Obwohl mein Aufenthalt im mentalen Zeitalter bisher kaum einen halben Tag und eine ganze Nacht betrug, so hatte mich doch die Vorstellung, mich würde überall nur der eisengraue Rasen der gegenwärtigen Zivilisation samt den schwärzlichen Lederbäumen, Tragantrosen und Wachsmagnolien umgeben, in eine depressive Stimmung versetzt. Über das fehlende natürliche Grasgrün halfen mir die Beleuchtungskünste der unterirdischen Appartements nicht hinweg, trotz all ihrem künstlichen Mondschein, Wiesenlicht und Waldesdunkel. War ich auch zu Lebzeiten eher eine Zimmerpflanze gewesen und nur ausnahmsweise ein Bergsteiger und
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