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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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voll Erde:
    »Ist es nicht erfreulich, B. H.«, sagte ich, »daß all das, was ich jetzt von dir erfahren habe, keine leeren Prophezeiungen und Wahrsagungen der Zukunft sind, sondern solide Tatsachen der Vergangenheit?«
    »Ich wünschte sie mir solider«, entgegnete er, »doch nicht nur der Prophet ist gezwungen, seine Visionen im Bericht zu verzerren, sondern selbst der reinkarnierte Historiker. Er ist bekanntlich auch nur ein rückwärtsgewandter Prophet, denn die Vergangenheit, die sich entfernt, wird ebenso unwirklich, wie es die Zukunft ist, die sich nähert. Die Ereignisse werden im Stromwasser der Zeit unnachsichtlich gebrochen.«
    »Schon im Raum werden sie gebrochen, lieber Freund, schon im Welten-Raum, durch den wir irren … Was ist das, B. H.? Wer ist es, der mir jetzt im schönsten Latein in die Ohren flüstert ›Animula, vagula, blandula, pallidula …‹ Du mußt mir helfen, B. H. …. Du bist noch heute, nach so vielen Wiedergeburten, der weit bessere Lateiner als ich, und von uns beiden warst ja immer du der Wissende und ich der Unwissende … Sag also, wer flüstert mir das zu: Animula, vagula, blandula, pallidula … –«
    »… Rigida, nudula«, setzte B. H. fort, und sein großer Kopf zitterte, und das verzückte Lächeln poetischer Kennerschaft lag auf seinen Zügen: »Ja, wer nennt dich ›Schmeichelseelchen, rastlos wanderndes, totblasses, kältestarres, nacktes …?‹ Es ist der Kaiser Hadrian, der dir sein Sterbeliedlein zuflüstert …«
    »Ja, und ich versteh ihn genau, deinen Kaiser Hadrian«, seufzte ich. »Er will mich warnen mit seinem Sterbeliedlein, das er sich weinend auf dem Totenbette vorsang, der sentimentale Gauner. Er warnt mich davor, meinen alten Frack abzulegen und dieses steife, aufgerauhte, zerknitterte Hemd. Denn unterm Hemd ist vielleicht nichts andres vorhanden als ein sinnliches Schmeichelseelchen, rastlos wanderbereit, totblaß und kältestarr …«
    B. H. lag still und antwortete nicht mehr. Ich aber redete weiter und erzählte ihm gar mancherlei, so schien es mir wenigstens, obwohl mich meine eigene Stimme wie aus dem Innern eines Bergwerks erreichte, eines Bergwerks, das ich selbst war. Just relax, hörst du, B. H., just relax, sagte der große amerikanische Dentist zur Frau Welt, der er links oben den Weisheitszahn extrahieren mußte. Und er hatte recht mit seiner Aufforderung. Dann aber, ich weiß nicht wie, saß ich als nächster im Stuhl, und ich hatte gar keine Angst mehr, denn alles war schon vorüber. Lassen Sie die Schultern fallen, riet er mir, und ich hielt das für goldene Worte, obwohl ich, mißtrauisch wie ich bin, längst schon ahnte, daß ich gar keine Schultern hatte. Aber ich saß fest und behaglich im Marterstuhl, das kann man nicht leugnen, obwohl ich gar nicht mehr vorhanden war. Doch siehe da, welch tief tiefe Erfahrung: obwohl ich gar nicht mehr vorhanden war, wurde ich bewegt. Der Marterstuhl war nämlich ein Rollstuhl. Bewegt werden, das ist das Letzte, was man weiß. Da aber das Bewegtwerden nie aufhört, so hört auch das Wissen um das Bewegtwerden, das letzte Bewußtsein nicht auf. Sollte mich Io-Fagòr jemals wieder über die Zeitlosigkeit interpellieren, so würde ich antworten: Stellen Sie sich vor, Compère, Sie seien nichts anderes als der Hohlraum eines Vehikels, das aus Zeit fabriziert worden ist, aus Zeitmetall. Rücksichtslos schlägt hinter Ihnen die Tür zu, und dann geht’s los. Ohne Zeit fahren Sie in der Zeit, um die Zeit zu erfahren. Fahren heißt, etwas erfahren. Und das ist ein echtes Reisemotto. Wer aber meint, daß der zeitlose Hohlraum, der bewegt wird, vollkommen leer ist, der weiß nichts von der Wahrheit. Es gibt keine absolute Leere, wie es keinen absoluten Tod gibt. Immer ist etwas da in mir, selbst im neunten Grade meiner Nichtvorhandenheit. Oh, wie stark ist es jetzt in mir. Oh, wie stark ist sie jetzt in mir: sie, die immerfort redet und stammelt und plappert und blabbert und lallt und lullt. Die altkluge Schwätzerin ist in mir, die syllabische Sybaritin, die den Mund nicht halten kann, von Ewigkeit und Ewigkeit. Und das also wäre die Animula vagula blandula, die unsterblich Frierende? Und es ist geradezu absurd, daß cäsarische Massenmörder im Tode zu lyrischen Eseln werden, die sich schrecklich selbst leid tun und ihr ewig miauendes Schmeichelkätzchen bedauern. Warum bedauern? Man muß die Schultern fallen lassen, doch nicht sich selbst. Solange das unaufhörlich Redende vom

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