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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Waldwanderer, und hatte ich auch die Landschaften meines Lebens mehr mit den Augen geliebt als mit den Füßen, so hatte doch das Bewußtsein einer noch nicht gebändigten Natur Tag und Nacht meinen Blutkreislauf erfüllt. Die fortgeschrittene, das heißt verödete Natur des astromentalen Menschen erzeugte in mir ein Gefühl des Verdorrens und Verkümmerns, und während meine lebendigen Zukunftszeitgenossen keine Entbehrung spürten, litt ich, das Gespenst der tiefsten Vergangenheit, wie eine Pflanze am Entzuge des frischen Wassers.
    Ich muß also mein Aufatmen, meine Beschwingtheit, meine Befriedigung, kurz mein seelisches und körperliches Entzücken nicht erst schildern, als ich durch eine enge Pforte im morschen Holzzaun in den Park des Arbeiters trat, der sich als eine gegliederte grüne Landschaft vor mir öffnete. Ich war diesmal allein. Es hatte mir sogar Spaß gemacht, mich das erste Mal frei in der mentalen Welt zu bewegen und B. H. mittels meines Reisegeduldspiels durchzugehen. Über dem morschen Gatter war eine Tafel angebracht, auf der zu lesen stand »Park des Arbeiters« und darunter in kleinen Buchstaben: »Wer seinen Rücken berührt, wird eine Kraft davontragen, die von ihm ausgeht.«
    Mir erschien dieses Zitat nicht völlig unbekannt, dennoch aber nahm ich an, es entstamme einem späteren Autor, von dem ich nichts mehr wußte. Als ich jedoch ein paar Tage nach meiner Heimkehr zu uns ins zwanzigste Jahrhundert durch Zufall wieder die Evangelien zur Hand nahm, schlug ich beim ersten Anblättern das achte Kapitel Lukas auf, und mein Auge fiel auf die Stelle, wo die Blutflüssige die Quaste von Jesu Mantel berührt und geheilt wird. Ich las: »Da fragte Jesus: ›Wer hat mich berührt?‹ – Als alle es verneinten, sagten Petrus und seine Gefährten: ›Meister, die Scharen umdrängen und stoßen dich.‹ – Jesus aber entgegnete: ›Es hat mich jemand berührt, denn ich spürte, daß eine Kraft von mir ausgegangen ist.‹« Ich erwähne die Inschrift über der vermorschten Pforte des Arbeiters und die entsprechenden Worte in Lukas Acht, ohne ihren Zusammenhang zu verstehen. Es mag sein, daß die Aufschrift einen Hinweis auf das Evangelium enthielt, aber ebensogut konnte ich mich irren.
    Das erste, was ich tat, als ich etwa zweihundert Schritte tief in den Park eingedrungen war und auf einer beblümten Wiese stand – ich warf mich der Länge nach ins Gras und sog den unaussprechlichen bekannten Duft mit weitgeöffneten Nasenflügeln ein. Auf dem Rücken liegend wie so oft im alten Leben, blickte ich zum Himmel auf. Er war leer, öde und brennend. Er verstrahlte jene merkwürdig kalte Hitze, die mich schon hatte frösteln lassen, als ich, ein noch Unsichtbarer, dem B. H. auf eisengrauem Rasen begegnet war. Ja, es war der mentale Himmel. Doch es schien hier nicht mehr ganz die mentale Erde zu sein. Wohltätige Kräfte hatten sie mit diesem Frühlingsgrün überhaucht, mit diesen ziemlich langen Grashalmen, zwischen welchen, vielleicht ein wenig variiert, aber doch erkennbar, die bekanntesten Blumensorten wuchsen, Anemonen, blaue Glocken, Dotterblumen, Löwenzahn, Rittersporn, und so weiter. Als ich eine Weile mit dem Kopf auf der nackten Erde gelegen, erschrak ich ein wenig, denn ich fühlte deutlicher als je ihren Magnetismus, der mich verschlingen, einverleiben, einarbeiten wollte wie ein ungeheurer Kuhmagen. Mich durchzuckte ein Gedanke: War der Erdplanet während meiner Abwesenheit dichter geworden, und hatte sich seine Schwerkraft erhöht, oder war ich selbst weniger dicht und widerstandsloser als einst? Ich wollte keineswegs riskieren, aufgelöst zu werden und verloren zu gehen in der großen Verlorenheit, obwohl ich mich auf dieser heimatlichen Wiese weniger davor fürchtete als nachts im Gastzimmer des fremden, unterirdischen Hauses. Im Augenblick aber fühlte ich mich mehr neugierig und forschungslustig als ruhebedürftig. So setzte ich mich mit einem Ruck auf und ließ meine Blicke in die Runde schweifen.
    Der Park des Arbeiters war gottlob keine Ebene wie die bewohnte Erde ringsum, die, wie man mir gesagt hatte, eine einzige Stadtsiedlung bildete. Er war ein angenehmes Hügelland. Durch das Tälchen zwischen den niedrigen Anhöhen schlich ein kleiner Bach, wobei das Wort Bach schon zu viel Ehre für diesen mäßigen Wasserlauf ist, an dessen Ufern das sonst allzu helle Grün etwas satter getönt war. Dort wuchsen auch unter Farnkräutern und allerlei Staudenzeug einige Bäume, die sich

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