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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Capricornetten, die mich beschnupperten, neugierig betasteten, sich mutwillig an mir rieben und mich mit Stößen ihres Miniatur-Gehörns bearbeiteten. Ich war in arger Bedrängnis, wenn nicht Hilfe kam. Schon sprang ich auf die Füße und dachte daran, B. H. innerlich anzurufen, zumal die energischen Tierchen, durch meine heftige Bewegung erregt, an mir emporsprangen und meine so ehrwürdige schwarze Hose mit ihren Hörnern aufzureißen begannen. Ich mußte mit wilden Tritten einen freien Raum um mich schaffen. Da ertönte ein nicht sehr lauter Ruf, die Ziegenbrandung fiel von mir sofort zurück, und ich war befreit.
    Langsam kam ein Mann auf mich zu, derselbe, der den Ruf ausgestoßen hatte. Er war viel größer und viel plumper, als die mentalen Menschen zu sein pflegten. Zuerste dachte ich, es sei der Arbeiter in Person. Bald aber sah ich, daß der Mann keinen Vollbart trug, daß ihm hingegen die nackte Brust über und über mit braunem Haar bewachsen war, welches er nicht verbarg, wodurch er sich, ich weiß nicht, ob geflissentlich oder durch eine Vorschrift, vom allgemeinen Standard der Glatthäutigkeit weit entfernte. Auch bemerkte ich an ihm keinerlei Schleierstoff, sondern einen unten zerfransten, lederartigen Schurz, der bis zu den Knien reichte. Auf dem Kopfe saß dem Mann ein kegelartiger breitkrempiger Filz, halb Steyrerhut, halb Kulisombrero. In der Hand hielt er einen Knotenstock, der in der Zeit des Mentelobols nur symbolisch gemeint sein konnte, während ihm über die Schulter etwas Faltiges hing, das ebensogut ein Wasserschlauch wie ein Dudelsack hätte sein können. Die Flut der Capricornetten beruhigte sich bei seinem Anblick sofort und brach in ein allgemein begrüßendes Gemecker aus, das bis weit hinter der Kammlinie der Anhöhen verebbte, obwohl die Lautstärke dieses Gemeckers genau im Verhältnis zur eingeschrumpften Körpergröße des astromentalen Ziegengeschlechts stand. Es war also eher ein meckerndes Gepiepe, dem von der anderen Hügelseite her ein bäendes Gepiepe antwortete, denn dort weideten die sogenannten Ovetten, das überlebende Geschlecht der Lämmer, Schafe und Widder, denen es ebenso diminuierlich ergangen war wie hüben unsern Geißen und Steinböcklein. So begegneten mir in dieser modernsten aller Welten hier die beiden Sorten biblischer Tiere, Schafe und Böcke, welche die legale Situation der menschlichen Seele rechts und links vom Gerichtsthron am Jüngsten Tag sinnbildlich zum Ausdruck bringen. Die Pferde hingegen waren längst ausgestorben. Den Rindern, die es noch gab, begegnete ich nicht und kann deshalb nicht verraten, ob auch sie nur in verkürzter Ausgabe vorhanden waren.
    Der Mann stand nun vor mir in seiner relativ plumpen, halbnackten Gestalt. Er hielt die Augen gesenkt, denn er schien scheu von Profession zu sein. Vermutlich einer der Oberhirten des Arbeiters, dachte ich.
    »Sind Sie nach mir gesandt?« erkundigte ich mich und suchte nach irgendeinem Ausdruck der Liebenswürdigkeit.
    »Ich hab’s gewußt«, nickte der supponierte Hirte, »ich hab’s gewußt.«
    Und ein breites Lächeln ging in seinen Zügen auf, das ein Grinsen zu nennen ich mich scheue, denn es war verhüllt schmerzlich.
    »Sie wissen also, wer ich bin?«
    »Seigneur, unser lieber Besuch«, sagte der Mann.
    »Wenn ich nicht irre, so betreuen Sie die Capricornetten da, diese niedlichen, aber ungezogenen Biester, die mir meine einzige Hose fast zerrissen haben. Sind Sie vielleicht Tierspezialist?«
    Ich wollte nicht »Hirte« sagen, ein Wort, das allzusehr den Anfängen der Menschheit angehörte und ihn vielleicht beleidigt hätte. Der Plumpe schüttelte eine Weile lang den Kopf, dann ließ er ihn traurig auf die Brust sinken und antwortete leise: »Nein, ich bin kein Spezialist. Ich bin der Einfältige dieses Zeitalters.«
    »Der Einfältige dieses Zeitalters?« wiederholte ich erstaunt, denn der Mann sah mich jetzt mit tiefen und wissenden Augen an, die keineswegs dümmer waren als etwa die Augen des Bräutigams Io-Do oder seines Vaters, des lieben Herrn Io-Solip.
    »Hat Ihr Titel irgendeine amtliche Bedeutung?« fragte ich höflich.
    »Ich bin einfältig«, erwiderte er offen und wehmütig, als zeige er eine Wunde. »Mein Kopf taugt nicht zum Lernen.«
    Selbstverständlich hätte ich jetzt schweigen sollen und ihn zu keiner weiteren Entblößung zwingen. Da ich aber in diesem Mann gleichsam auf den berufenen Kretin der mentalen Welt gestoßen war, wollte ich seine Grenzen kennenlernen und

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