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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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von den niedrigen lederblättrigen Laubstämmen der Hausbaumgruppen aufs traulichste unterschieden. Es waren durchweg schlanke, recht hochgewachsene Bäume mit rauchigem, zittrigem oder silbrigem Blätterwerk. Sie schienen Abkömmlinge oder Nachbildungen unsrer Birken, Silberpappeln, Espen und Erlen zu sein, feminine oder geisterhafte Baumarten, wie man sieht, die dem mentalen Landschaftsbild am ehesten entsprachen, in welches Eichen, Linden, Platanen oder gar urwaldhafte Riesenlärchen schlecht hineingepaßt hätten. Ich erkannte in der Auswahl dieser überlebenden Bäume eine zwingende Logik der Natur. Sie erquickten mich sehr, diese schlanken Nachkommen der Silberpappeln, Espen und Birken, und ich konnte mir nicht helfen, es sangen mir alte Verse im Gemüt:
    »Fühl ich nicht das Herz der Birke,
    Das ihr bis zum Halse pocht?
    Welche Lieb im Lichtbezirke
    Hat sie plötzlich übermocht?«
    Es dauerte eine ganze Weile, bis es mir bewußt wurde, daß auch diese natürliche Natur unnatürlich war, und zwar auf eine sanft herausfordernde Art. Ich frage mich aber, gibt es für den Menschen überhaupt eine natürliche Natur? Gesetzt den Fall, der geduldige Leser und ich säßen augenblicklich nicht im Park des Arbeiters, und zwar im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau, sondern wir säßen zwischen dreizehnhundert und vierzehnhundert etwa in den eugeneischen Hügeln bei Padua: würde uns dann die Natur, die Giotto und seine Nachfolger als Hintergrundlandschaft auf ihren Fresken gemalt haben, nicht ebenso unnatürlich oder, milde ausgedrückt, stilisiert erscheinen? Die Wahrheit ist, es gibt gar keine natürliche Natur, denn die Natur trägt jederzeit das historische Kostüm, das ihr das menschliche Auge gibt. Wer im Jahre 1943 die Landschaftsbilder Renoirs und Pissaros oder der späteren Impressionisten betrachtet, der mag sich wohl darob verwundern, daß dreißig, vierzig Jahre vorher schwache Nerven vor diesen hochstilisierten Kompositionen Ohnmachtsanfälle bekamen, und zwar wegen des brutalen Naturalismus der Darstellung. Am tiefsten aber entpuppt sich dieses Geheimnis in der Tatsache, daß selbst die photographische Linse nicht objektiv ist, sondern daß die Bilder, die sie festhält, ebenso an den historischen Stil ihrer Epoche gebunden sind wie die Bilder der Maler. Es ist nicht leicht, für die Stilisierung der Parklandschaft des Arbeiters einen richtigen Vergleich zu finden. Am ehesten erinnerte sie mich noch an den matten Klassizismus der Empirezeit oder an die frühe Romantik, wo man Äolsharfen in die Weidenbäume hing, wo man allenthalben künstlich umgestürzter Säulen gewärtig sein mußte, wo der Dichter, wie es unterm kolorierten Stich in Rundschrift geschrieben stand, »Im Carlsbad« spazierenging, und zwar in einer »idealen Landschaft«. Ich sah hinaus in diese magere ideale Frühlingslandschaft, deren mattes, rauchiges, zittriges Baum- und Buschgrün ich mit jedem meiner Atemzüge einzusaugen glaubte. Allzulange hatte ich’s entbehrt. Ich dachte nichts. Ich träumte nichts. Meine Hände rauften mit wundervollen, hunderttausendjährigen Kindheitsgefühlen das Gras. Dann und wann führte ich einen langen Halm zum Mund und sog an seiner leisen Süßigkeit, die mich unendliche Zeitstrecken zurückführte. Beinahe hatte ich den Arbeiter und meine Neugierde schon vergessen, als ich an meinen beiden Beinen plötzlich von allen Seiten scharfe Stöße fühlte. Ich schrak zusammen, ehe ich noch wagte hinzuschauen. Als ich aber hinsah, da bot sich mir ein höchst absonderliches und unerwartetes Bild. In der Nacht hatte B. H. von »Capricornetten« gesprochen, die der Arbeiter für sich und seine Bevorzugten zu melken pflegte. Was anderes hätte man sich unter diesem Worte trotz des Diminutivums vorstellen sollen als Ziegen oder ziegenartige Geschöpfe mit strotzenden Eutern, wie sie uns bekannt sind? Ziegenartige Geschöpfe waren’s ohne Zweifel, welche soeben die Wiese, auf der ich lagerte, zu Tausenden überschwemmten, obwohl man bei näherer Betrachtung ebensogut von einem Mittelding zwischen Gemsen und Steinböcken sprechen konnte. Aber nicht die Spezies war das Staunenswerte. In den vergangenen Erdepochen meiner Pause war nämlich das Ziegengeschlecht etwa zur Größe unsrer Eichhörnchen oder kleineren Kaninchen zusammengeschrumpft. Meine Beine umsprangen und umspielten demnach schöngeformte, sandfarben lebendige Spielzeuge von Steinböcken und Geißen, und zwar eine ganz unermeßliche Flut von

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