Sternenfaust - 055 - Krieg in der Hohlwelt (1 of 2)
ohne Waffen aus dem Lager absetzen müssen. Nun besaß er welche. Warum zögerte er noch?
Auch ohne Waffen wäre es ihm ein Leichtes gewesen, Odira umzubringen. Seine Krallen besaßen die nötige Schärfe, um ihr die Pulsadern aufzuschlitzen. Und sie lag bewusst- und wehrlos vor ihm. Sie würde nichts davon merken. Die Rache ihres Vaters fürchtete er nicht. Die war ihm so oder so sicher. Und Kanturiol bezweifelte, dass Fürst Malachenko länger als die vorgeschriebene Zeit um seine Tochter trauern würde. Der Herrscher gehörte zur Bruderschaft des Altväterlichen Bundes. Davon zeugte nicht nur sein weit über die Grenzen seines Landes hinaus berühmter Harem.
Frauen bedeuteten ihm nicht viel, weder als Mütter noch als Töchter, für ihn zählten nur Söhne, die er mit all seiner Liebe überschüttete. Die Tatsache, dass sich seine jüngste Tochter in der fürstlichen Armee nach oben gearbeitet hatte, war einzig dem Einfluss General Wrogins zu verdanken, der Odiras Kriegs- und Kampftalente früh erkannt hatte. Ginge es nach den Flüsterern des Altväterlichen Bundes, gäbe es in der ganzen Armee Malachenkos keine Frauen, weder bei der Elitetruppe der Jäger, noch bei Infanterie oder den Bootsleuten. Aber der Fürst war pragmatisch genug, den Flüsterern nicht in jedem Punkt nachzugeben.
Es sah alles danach aus, dass Odira allein unterwegs gewesen war. Hätte sie gemeinsam mit anderen Jagd auf ihn gemacht, wären sie längst hier. Vielleicht hatten sich ihre Wege auch nur aus Zufall gekreuzt. Vielleicht war seine Abwesenheit noch gar nicht bemerkt worden und auch sie hatte sich verbotenerweise von der Truppe entfernt. Nein, das konnte nicht sein. Ersteres mochte stimmen. Das zweite sicher nicht. Dann hatte sie nicht nur eine Erlaubnis sich vom Lager zu entfernen, sondern auch einen Auftrag. Einen geheimen Befehl.
Jedem anderen wären diese Gedanken gleichgültig gewesen. Ihm nicht. Er hatte sich längst entschlossen, sie am Leben zu lassen. Aber er konnte es auch nicht wagen, sie einfach in diesem Dickicht zurückzulassen. Er musste sie mitnehmen. Ab sofort war sie seine Gefangene. Vielleicht würde sich irgendwann herausstellen, dass er sie noch gebrauchen konnte. Als Geisel, als Faustpfand.
Heiser lachte Kanturiol in sich hinein, als er die Bewusstlose fesselte. Er wusste genau, dass er sich etwas vormachte. Die Nachteile würden die vermeintlichen Vorteile bei weitem überwiegen. Mit einer Gefangenen im Schlepptau würde er nur halb so schnell vorwärts kommen. Und solange sie noch ohnmächtig war, würde er sie tragen müssen. Sie war zwar zierlich und leicht, aber mit ihr über der Schulter käme er nicht weit. Sollte er sie doch zurücklassen?
In diesem Moment schlug sie die Augen auf.
*
»Ich … ich kann nicht … mehr …« Abrupt blieb er stehen. Es war das erste Mal, dass sie etwas sagte, seit sie vor zwei Wachphasen losgezogen waren. Trotz, Verbitterung und schließlich Verzweiflung hatten ihren Mund versiegelt. Mehr als einmal hatte er versucht, mit ihr zu reden, aber sie starrte ihn jedes Mal nur voller Verachtung an. Sie aß schweigend die Nurranto-Früchte, die er ihr pflückte, wenn sie Rast machten. Dazu lockerte er ihre Fesseln, die er dann regelmäßig wieder festzurrte, wenn sie sich zum Schlafen niederlegten. Die Wurfangel hatte er hinter seinem Rücken in den Gürtel gesteckt. Das Bajonett hielt er, wenn sie weiterliefen, in der Hand und wehrte damit die nach ihnen ausschlagenden Lianen ab. Die Führungsleine hatte er in mehrere Teile zerschnitten, mit denen er die jüngste Tochter des Fürsten nicht nur gefesselt, sondern auch an sich gebunden hatte. So spürte er jede ihrer Bewegungen selbst dann, wenn er schlief.
Es war wohl diese höchst demütigende Behandlung, die sie verbittert hatte schweigen lassen.
Trotz seiner anfänglichen Befürchtungen kamen sie schneller vorwärts, als er gedacht hatte. Aber das lag vor allem an der langen, scharfen Klinge des Bajonetts, mit dem er den Weg freihauen konnte. Und an der Schlinge, die er ihr nicht zu fest, aber auch nicht zu lose um den Hals gelegt hatte und die sich zusammenziehen würde, sobald sich die Leine, die sie mit Kanturiol verband, zu stark straffte.
»Was ist los«, knurrte er. »Wir sind doch erst zwei Stunden unterwegs …«
Wie alle Elite-Jäger verfügte Kanturiol über ein exzellentes Zeitempfinden, Resultat einer langen Ausbildung, in der er gelernt hatte, den immer gleichbleibenden Puls der Welt zu spüren.
Weitere Kostenlose Bücher