Sternenfaust - 194 - Der Hüter des Krinoi'i
man ihm den wenig schmeichelhaften Beinamen »Frunkus Sohn« gegeben. Es war schmerzhaft, dass man ihn mit einem Dämon aus den alten Legenden verglich, der in der Dunkelheit lauerte und jeden, dessen Weg er kreuzte, ins Unglück stürzte. Und es trug auch nicht dazu bei, dass er seinen Status als Solitarier in absehbarer Zeit würde beenden können. Doch seine persönlichen Belange waren im Moment völlig unwichtig.
Als er alles gesehen hatte, was es zu sehen gab und die Muster auf seiner Haut verblassten und schließlich verschwanden, stieg er von der Plattform, auf der er die ganze Zeit gestanden hatte. Der Steifheit seiner Gliedmaßen nach zu urteilen, hatte es reichlich lange gedauert, die Visionen zu empfangen.
Er trat an die Schatulle, in der das Krinoi’i aufbewahrt wurde, und blickte darauf hinab. Der Ring, der einen Durchmesser von drei Fingerbreiten besaß und eine Höhe von einem Finger, blieb matt und unscheinbar. Nur ein weißer Ring aus neun Einzelsträngen, die in Bündeln zu dreien geflochten waren, ohne Anfang, ohne Ende.
Es war der kostbarste Besitz der Tikar’Senn. Und ihr Untergang, wenn er sich nicht beeilte.
Corshoan schloss den Deckel und ging zu dem Tisch hinüber, auf dem er sein Oberteil abgelegt hatte, damit er nach der Rückkehr aus der Trance keine Zeit damit vergeuden musste, es auszuziehen, um die Spuren zu sehen, welche die Visionen auf seiner Haut hinterließen. Manche waren so flüchtig, dass sie bereits nach wenigen Herzschlägen verschwunden waren, noch ehe er sich hätte entkleiden können.
Nachdem er den Stoff in den Bund seiner Hose gesteckt hatte, verließ Corshoan den Schrein.
Draußen blendete ihn Farrkus Licht. Dessen bläuliche Farbe nahm bereits einen Hauch von Violett an, ein Zeichen, dass der Tag sich seinem Ende zuneigte.
Von der Tür des Schreins aus hatte er einen Blick über die Stadt. Die sechseckigen Bauten schmiegten sich nahtlos aneinander und türmten sich nach oben verjüngend zu schlanken Fingern auf. Es war, als streckten Riesen ihre Finger aus dem Boden Tikaras dem Himmel entgegen.
Corshoans Augen wurden erneut von der Vision des Flammenmeeres geblendet, das aus den Türmen schoss und alles vernichtete.
Er seufzte und rief seinen Eponen zu sich, der ihn zum Blauen Turm brachte, in dem der Laluum wohnte.
*
Corshoan wurde als Hüter des Krinoi’i sofort zu Ranaon, dem Laluum, vorgelassen.
Ranaon blickte ihm missmutig entgegen. Er hatte das Amt des Laluum erst vor einem Zyklus erhalten und versuchte, alles richtig zu machen, damit es allen Tikar’Senn gut erging. Schließlich wurden seine Anordnungen, die er für das Volk traf, nicht infrage gestellt. Deshalb beschäftigte er eine für Corshoans Begriffe riesige Zahl von Informanten, die ihm zwar nichts raten durften – das verbot das Gesetz – die ihm aber alle notwendigen Informationen aus allen Teilen Tikaras lieferten, aufgrund derer Ranaon entschied, was für das Volk das Beste war. Keine leichte Aufgabe.
Corshoan wollte um keinen Preis mit ihm tauschen. Als Hüter des Krinoi’i war er nur der Überbringer der Botschaften seiner Visionen, die vom Krinoi’i stammten, doch er war nicht verantwortlich für die sich daraus ergebenden Folgen. Ranaon dagegen musste jede seiner Entscheidungen am Ende jedes Zyklus’ vor dem Volk rechtfertigen. Traf er zu viele, die sich später als Nachteil für die Tikar’Senn herausstellten, war er am Ende des Jahres nicht nur seinen Posten als Laluum los, sondern wurde obendrein bestraft, insbesondere wenn ihm nachgewiesen werden konnte, dass seine Fehlentscheidungen auf Nachlässigkeit basierten statt auf ehrlichen Irrtümern oder unglücklichen Umständen.
Ranaon seufzte, als Corshoan den kleinen Raum betrat, in dem der Laluum ihn zu empfangen pflegte.
»Warum habe ich immer das Gefühl, dass Frunku persönlich eintritt, wenn du kommst?« Er bedeutete Corshoan Platz zu nehmen.
Corshoan setzte sich auf den Hocker, auf dem er schon so oft gesessen hatte, wenn er Ranaon und auch dessen acht Vorgänger besucht hatte. »Macht es dir Freude, mich ebenso zu beschimpfen wie die anderen?«
Ranaon drehte den Kopf zur Seite und vermied genau sieben Herzschläge lang den Blickkontakt mit ihm – ein Zeichen von Verlegenheit. »Verzeih mir, Bruder. Meine Bemerkung entsprang meiner Angst, dass du wieder einmal schlechte Nachrichten bringst. Meine Zeit als Laluum steht unter einem schlechten Stern, wie du weißt. Missernten, der Unfall in den Minen, der
Weitere Kostenlose Bücher