Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman (German Edition)
die Blicke aus ihren haselnussbraunen Augen schossen wie Pfeile durch den Korridor. »Jungs, Mädchen, bleibt zusammen!«, rief sie, und wie von Zauberhand versammelten die Kinder sich, die Augen auf Melissa gerichtet.
Das Interkom des Schiffs knackte, und Kierans Stimme aus den Lautsprechern rief die gesamte Crew in den Zentralbunker.
Jedwede Unterhaltung verstummte; Stille senkte sich über die Kinder, die nun alarmiert Melissa fixierten.
»Alle zu den Aufzügen!«, rief sie und trieb die Kinder zum zentralen Aufzugsschacht. Melissa war nur zwölf Jahre alt, aber sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich um die Waisenkinder zu kümmern, die zu jung waren, um dabei zu helfen, das Schiff am Laufen zu halten. Jeden Tag erstattete sie pflichtbewusst dem Kinderhort Bericht, in dem sie und verschiedene andere Helfer mit den Kindern Spiele spielten, Unterrichtsstunden vorbereiteten und auch sonst alles taten, um den Kleinen ein Gefühl von Geborgenheit zu geben. Auch Melissas nächtliche Geschichten-Stunden waren auf dem Schiff berühmt geworden – jene Zeit, in der selbst die älteren Kinder kamen, um ihr zuzuhören, wenn sie ihnen Erzählungen wie Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden oder Roald Dahls James und der Riesenpfirsich vorlas. Dann brachte sie alle Kinder in einigen Räumen am Ende des Gangs zu Bett und ließ alle Türen offen, so dass sie selbst nur ein Flüstern entfernt war. Es war nicht verwunderlich, dass alle kleinen Kinder sie liebten. Selbst Waverly fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart.
»Kommen sie zurück?«, fragte Silas Berg, ein Sechsjähriger, der ein Händchen dafür hatte, die schlimmsten Befürchtungen aller Anwesenden auf den Punkt zu bringen.
»Nein, Silas«, entgegnete Melissa ruhig und strich ihm sanft mit den Fingerspitzen über die Wange. »Die New Horizon ist Millionen von Meilen entfernt. Und wir sind nicht mehr innerhalb des Nebels. Sie können uns nicht mehr auflauern und uns überrumpeln.«
»Ich habe Angst«, flüsterte Paulo Behm und schob seine kleinen braunen Finger in die Falten von Melissas Bademantel.
»Ich auch«, entgegnete sie und strich ihm über die Wange, diesmal mit der Rückseite ihrer Finger. »Aber wir werden alle zusammenbleiben, nicht wahr, Waverly?«
Waverly nickte und versuchte sich für die Kinder an einem beruhigenden Lächeln.
»Frag nicht sie«, fuhr da die kleine Marina Coelho mit durchdringender Piepsstimme dazwischen. »Sie ist es gewesen, die unsere Eltern zurückgelassen hat.«
»Wenn du es besser kannst, warum hast du es dann nicht getan?«, gab Melissa zurück. Ihre Worte waren bestimmt, aber ihr Tonfall sanft. »Warum wäre es an Waverly gewesen, unsere Eltern zu befreien?«
»Sie ist fünfzehn!«, kreischte Marina, als würde das alles erklären. »Sie ist das älteste Mädchen. Und deshalb wäre es ihre Aufgabe gewesen!«
»Sie hatte keine andere Wahl als zu tun, was sie getan hat«, sagte Melissa scharf und warf Waverly einen entschuldigenden Blick zu. »Sie und Sarah haben uns alle gerettet. Ich für meinen Teil jedenfalls finde, dass Waverly eine Heldin ist.«
»Ich nicht«, spie Silas mit aller Verachtung eines kleinen Jungen heraus. »Niemand außer dir denkt das!«
Melissa schüttelte verzweifelt den Kopf, als der Fahrstuhl sich öffnete und die zottelige Herde hineintrabte.
Auch Waverly stieg ein, das Gesicht auf die nun wieder geschlossenen Aufzugtüren gerichtet. Aber sie konnte die Blicke der anderen in ihrem Rücken spüren. Dann presste sich ein schmaler Körper gegen ihr Bein, und als Waverly hinabsah, entdeckte sie Serafina Mbewe. Das Mädchen sah sie aufmerksam an, ihre Wattebausch-Zöpfe schwebten wie zwei dunkle Wolken über ihrem zierlichen Gesicht. Serafina war vier Jahre alt, und sie war taub, konnte aber Worte von den Lippen ablesen. Waverly versuchte, sie anzulächeln, doch ihre Lippen zitterten, und schließlich wandte Serafina den Blick ab, offenbar noch verängstigter als zuvor.
Der Fahrstuhl öffnete sich und gab den Blick auf den Zentralbunker frei, in dem das Chaos herrschte. Am Rande des riesigen Raums waren Betten aufgestellt, die Notbeleuchtungskörper hingen von der Decke herab, und am Ende des Raums befand sich eine große Küche, wo die Gemeinschaftsmahlzeiten vorbereitet werden konnten. Kinder drängten sich in Gruppen entlang der Wände zusammen, saßen starr auf ihren Feldbetten oder unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Waverly versuchte die zornigen Blicke einer Gruppe von Mädchen
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