Sternenflut
ihren, und ihr warmer Atem erfüllte seine Nase. Er wandte seinen Blick ab. Irgendwie hatte er das Gefühl, sie im Stich zu lassen.
Dann spürte er es – ein zärtliches Streicheln, das gegen ein versperrtes, schweres Gefühl in seinem Kopf anzukämpfen schien. Es war ein sanfter Druck, der nicht weichen wollte. Und er begriff, daß das, was sich dagegen sperrte, er selbst war. Ich gehe morgen fort, dachte er. Sie hatten gestritten, wer von ihnen gehen würde, und er hatte gewonnen. Aber es war bitter, gehen zu müssen. Er schloß die Augen.
Ich habe sie abgeschnitten von mir! Vielleicht werde ich nie mehr zurückkommen, und ich habe mich vom tiefsten Teil meiner selbst abgeschnitten! Tom fühlte sich plötzlich sehr fremd und sehr klein, als sei er an einem gefährlichen Ort gestrandet, an der einsamen Barriere zwischen denen, die er liebte, und seinen gräßlichen Widersachern – kein Superheld, sondern ein einfacher Mensch, der einer gewaltigen Übermacht gegenüberstand und alles aufs Spiel setzen würde, was er hatte. Als wäre er er selbst. Er fühlte eine Berührung auf seinem Gesicht und öffnete die Augen.
Er preßte seine Wange an ihre Hand. Immer noch schimmerten Tränen in ihren Augen, aber da war auch der Beginn eines Lächelns. »Dummer Junge«, sagte sie. »Du kannst mich niemals verlassen. Hast du das denn noch nicht begriffen? Ich werde bei dir sein, und du wirst zu mir zurückkommen.« Erstaunt schüttelte er den Kopf.
»Jill, ich...« Er begann zu sprechen, aber sie schnitt ihm das Wort ab.
Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn hungrig. Ihre Lippen preßten sich kreuzweise auf die seinen, heiß und zart. Die Finger ihrer rechten Hand vollbrachten Erregendes. Aber es war ihr schwindelerregender, süßer Duft, der ihn begreifen ließ, daß sie recht hatte. Wieder einmal.
TEIL DREI
DISSONANZ
»Tiere werden geformt von natürlichen Kräften, die sie nicht begreifen.
In ihren Gedanken gibt es keine Vergangenheit
und keine Zukunft.
Es gibt nur die immerwährende
Gegenwart einer einzelnen Generation,
ihre Spuren im Wald
ihre verborgenen Pfade in der Luft
und in der See.
Es gibt nichts im Universum,
das einsamer wäre
als der Mensch.
Denn er hat die fremde Welt der Geschichte betreten.«
LOREN EISELEY
28. Sah’ot
Die ganze Nacht hindurch war er ihnen gefolgt. Gegen Morgen spürte Sah’ot, daß er sie allmählich verstand. Als der Morgen graute, verließen die Kiqui ihre nächtlichen Jagdgründe und schwammen zurück zu ihrer sicheren Insel. Sie verstauten ihre gewebten Netze und Fallen in versteckten Korallenspalten, nahmen ihre primitiven Speere und flüchteten vor dem nahenden Licht. Im Tageslicht würde der Killertang aktiv werden, und auch andere Gefahren würden erwachen. Tagsüber konnten die Kiqui die Wälder auf den Metallinseln durchstöbern, in der dichten Vegetation nach Nüssen suchen und kleines Getier erjagen.
Unter Wasser sahen die Kiqui aus wie grüne Kugelfische mit kurzen Ärmchen, Schwimmhäuten zwischen den Fingern und Flossen an den Füßen. Ein Paar beinahe greiffähiger Bauchflossen half ihnen beim Manövrieren. Ihre starken Ruderbeine gestatteten ihnen, die Hände freizubehalten, so daß sie Lasten bei sich tragen konnten. Ihr Kopf wurde von einer flossenarngen Krone aus hauchfeinen Flimmerhärchen umweht, die gelösten Sauerstoff aus dem Wasser sammelten, der dazu diente, den aufgeblähten Luftsack der Kiqui nachzufüllen. Die JägerSammler zogen zwei Netze voller funkelnder, hummerähnlicher Meerestiere hinter sich her, die wie bunte Metallfiguren in den Maschen hingen. Dabei sangen die Kiqui ein Lied aus raschelnden, quakenden und kläffenden Lauten. Sah’ot hörte ihnen zu, wie sie sich quiekend miteinander verständigten. Ihr spärliches Vokabular war kaum mehr als eine Serie von vokalisierten Signalen, mit denen sie ihre Bewegungen koordinierten. Immer wenn ein paar Kiqui zum Atmen an die Wasseroberfläche stiegen, wurde dieses Unterfangen von einer komplexen Folge von Zwitscherlauten begleitet. Die Eingeborenen nahmen kaum Notiz von den fremdartigen Wesen, die ihnen folgten. Sah’ot blieb auf Distanz, sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu stören. Natürlich wußten sie, daß er da war. Ab und zu schickte ein jüngerer Kiqui ein argwöhnisches Sonarzirpen in seine Richtung. Seltsamerweise schienen ihn die älteren Jäger völlig zu akzeptieren. Sah’ot blickte erleichtert zum aufsteigenden Morgenlicht hinauf. Trotz der Finsternis hatte
Weitere Kostenlose Bücher