Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
starteten. Er betrachtete die Wagen mit äußerster Aufmerksamkeit, als beabsichtige er, ein Verzeichnis sämtlicher Details ihrer Konstruktion zu erstellen; und es schien, als wären die Menschen, die sie flogen, für ihn interessanter als irgend jemand sonst im Tal.
Reyna hätte ihn nicht tadeln können, wenn er verbittert oder verärgert gewesen wäre; aber beides schien er nicht zu sein. Es gab Höflichkeitsregeln, die man im Tal einem Gast gegenüber üblicherweise berücksichtigte, und sie hatte ihm gegenüber keine einzige davon beachtet. Und ihre Mutter es mußte demütigend sein, einer Frau verpflichtet zu sein, die einen kaum wahrnahm. Es mußte ihm so vorkommen, als wäre er zwar der Einsamkeit der Berge entronnen, aber nur, um in eine weit perfektere Isolation zu geraten.
Gelegentlich legte Reyna eine Pause in ihrem Training ein und stellte sich wegen ihres eigenen Betragens zur Rede. An dem Tag, als sie sich trafen, war ihr Juaren argwöhnisch vorgekommen, als befürchte er, daß sie ihn verletzen könnte. Jetzt hatte sie es getan; nicht nur einmal, sondern viele Male, und er nahm ihr Benehmen hin, als wäre es so, wie er es erwartet hatte; als wäre es genau das, wogegen er sich beschützt hatte.
Wieso? Wieso hatte er keine bessere Behandlung erwartet, als sie ihm im Terlath-Tal tatsächlich zuteil wurde? Und weshalb kränkte es ihn nicht?
Vielleicht tat es das. Oder vielleicht verletzte es ihn trotz seiner Bemühungen, sich zurückzuhalten. Manchmal beobachtete sie ihn nämlich aus der Entfernung und sah an seiner Haltung, wie gehemmt er war, wie er die Lippen zusammen-preßte, wie einstudiert 'ausdruckslos sein Blick geworden war; sogar noch ablehnender als am ersten Tag, als sie sich trafen. Vielleicht kam er sich in der gegenwärtigen Situation ebenso unbedeutend vor wie sie.
Reyna hatte nicht soviel Zeit zur Verfügung, wie sie gerne gehabt hätte, um über diese Dinge nachzudenken. Ihr Training beanspruchte ihre ganzen Kräfte. Das und die Angst-Bestie, die sie verfolgte.
Der Stein.
Sie mußte Stein im Herzen haben. So geschah es, daß aus einer Palasttochter eine Barohna wurde; indem sie einen Stein anstelle des Herzens bekam. Indem sie sich selbst so hart machte wie der Sonnenstein, den die Barohna dazu benutzte, ihr Tal zu erwärmen.
Noch immer schien es Reyna, daß ihre Mutter sich nicht selbst so hart gemacht hatte. Die Menschen im Tal erwarteten
von ihr eine Thronfolgerin, und sie hatte alles unternommen, um sie hervorzubringen. Mit jedem Tag wurde sie wortkarger, zurückhaltender und verschlossener. Sie ging einher, um ihre öffentlichen Funktionen zu erfüllen, als wäre sie beinah blind, und sprach geistesabwesend, wenn sie sitzen und sich Streitigkeiten anhören mußte; urteilte launenhaft, wenn ihr Richtspruch erforderlich war.
Und Reyna wußte, wenn sie ihre Prüfung nicht zum festgesetzten Termin wahrnähme und wenn sie keinen Erfolg haben sollte, wäre Juaren nur der erste in einer Aufeinanderfolge rasch wechselnder Gefährten ihrer Mutter. Andere Männer würden in Khiras Gemächern wohnen; andere Männer, für die sich die Ehre, der Gefährte einer Barohna zu sein, in Asche verwandeln würde; andere Männer, die bemerken würden, daß sie an den Abenden mit einer Frau tanzten, die ebensogut aus Stein hätte sein können.
Mit einer Frau, die nicht aus Stein war. Wenn sie es wäre, hatten die vorbeieilenden Tage dann ihr Gemüt so verfinstern können?
Und alles war überflüssig.
Es mußte überflüssig sein. Reyna predigte es sich jeden Tag, wenn sie zum Übungsraum ging. Die Disziplin, die sie sich auferlegte, war nicht nutzlos. Sie gestand sich nicht einmal die Möglichkeit ein. An dem Tag, den sie bestimmt hatte, würde sie stark genug sein für jedes Tier, und Khira würde keine weitere Tochter haben müssen. Juaren konnte in die reinere Einsamkeit der Berge zurückkehren, und ihr Vater konnte aus der Wüste zurückkommen.
Reyna wiederholte diesen Schwur für sich, als sie die Folge von Freiübungen zu Ende führte, die sie sich selbst für diesen Tag verschrieben hatte, und begann, immer im Kreis im Übungsraum herumzulaufen. Aber wozu waren Schwüre gut, fragte sie sich, wenn sie nicht den Mut hatte, den Termin ihrer Prüfung zu verkünden? Gerade ihr Schweigen war das Eingeständnis ihres Zweifels. Ihre Mutter, Richterin Minossa, alle im Tal mußten ihn ihr ansehen.
Betrübt lief sie die Runden, die sie sich vorgenommen hatte, wusch sich am Becken und zog zum
Weitere Kostenlose Bücher