Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
der Plaza stand, als Juaren steifbeinig vortrat und Khiras Hand nahm. Khira hatte eine Tochter, die mit bleichem Gesicht und sprachlos zusah und kaum bemerkte, wie sie die Leute verstohlen von der Seite betrachteten. Sie starrte auf Juaren und Khira, die dort die vertrauten Tanzschritte ausführten; verstand mit überwältigender Klarheit, wovon sie Zeugin wurde.
Ein Jäger war aus den Bergen gekommen. Ihre Mutter hatte ihn gesehen und ihn dazu eingeladen, ihr Gefährte zu sein; vielleicht nur für diese eine Nacht, vielleicht aber auch für die Saison. Sie hatte ihn eingeladen, die Unterkunft mit ihr zu teilen und eine Tochter mit ihr zu zeugen.
Weil – welchen anderen Grund konnte sie haben? –, weil sie einen bestimmten Mangel an der Tochter wahrnahm, die schon vorhanden war. Weil sie schon entschieden hatte, daß Reyna, wenn sie auch auf den Berg ging – welche Wahl blieb ihr denn als Palasttochter? –, nicht zurückkehren würde.
Weil sie fürchtete, daß es keine Barohna mehr geben würde, die das Tal wärmen und ihm Leben verleihen könnte, wenn sie nicht noch ein Kind austrüge.
Das waren Reynas Gedanken. Ihr Verhalten drückte sie für jedermann offensichtlich aus. Allmählich kroch ihre Hand an die Kehle. Ein Aufschrei des Schmerzes und Protestes saß darin und nahm ihr den Atem. Ihre Mutter hatte so wenig Vertrauen in sie, daß sie einen Fremden in ihre Gemächer eingeladen hatte. Sie hatte so wenig Vertrauen in sie, daß sie ihr Bett mit einem Mann zu teilen beabsichtigte, den sie vor dem heutigen Abend nie gesehen hatte.
Kein Wunder, daß Schmerz in ihren Augen geschrieben stand. Khira war die einzige Barohna auf ganz Brakrath, die einen ständigen Gefährten hatte. Sie war die einzige Barohna, die nacheinander vier Kinder von demselben Mann geboren hatte. Eines dieser Kinder, Danior, war jedoch männlich und konnte den Thron nicht einnehmen. Die übrigen drei hatten Mängel. Sie mußte einen anderen Gefährten erwählen. Sie mußte einen Fremden nehmen wie andere Barohnas auch.
Reyna rang nach Luft und versuchte verzweifelt, die volle Bedeutung der Situation zu erfassen. War das die Ursache dafür, daß ihr Vater in die Wüste gegangen war? Weil ihre Mutter einen neuen Gefährten erwählen mußte und er es nicht miterleben wollte? Weil er sie in der Holzrauchnacht nicht mit einem anderen Mann tanzen sehen wollte?
Reyna mochte es auch nicht sehen. Sie wollte aufbegehren. Sie wollte es herausschreien. Sie wollte ihrer Mutter jetzt, hier und vor all den anderen sagen, daß sie keine weitere Tochter bekommen mußte. Daß sie schon eine Tochter hatte, die ihrer Pflicht nachkommen würde, wenn auch verspätet.
Aber was würde es nützen? Reyna nahm die Hand von ihrer Kehle und ballte sie zur Faust. Ihre Mutter hatte eindeudige Verpflichtungen gegenüber den Menschen im Tal, und sie hatte die heutige Nacht dazu ausersehen, sie zu erfüllen. Sie konnte auf bloße mündliche Zusicherungen nicht eingehen.
Statt dessen mußte Reyna ihre Bereitschaft zu handeln zeigen. Sie mußte beweisen, daß sie sich ihrer Pflicht vollauf bewußt war – und daß sie sich darüber im klaren war, daß die Zeit für deren Einlösung gekommen war. Sie mußte das Datum ihrer Prüfung festlegen. Sie mußte es ankündigen, und dann mußte sie sich darauf vorbereiten. Sie mußte üben, bis ihr Körper gestählt und ihr Geist entschlossen war. Sie mußte trainieren, bis sie stark war; so stark, wie sie sich zuweilen fühlte. Sie mußte den Stein in ihr Herz nehmen und sich auf die ärgste Bestie des Berges vorbereiten.
Wie lange würde sie dazu benötigen? Aber das spielte keine Rolle. Sie war jetzt im richtigen Alter, und sie hatte eine Pflicht; ebenso wie ihre Mutter sie gehabt hatte. Der Berg war schon immer ihre Bestimmung gewesen; ihre einzige Wahl. Dies war die Jahreszeit, in der sie gehen mußte. Sie hatte bereits zu lange gebraucht, um sich darüber klar zu werden.
Auf den Platten bewegten sich wieder die Tänzer, und ihre Mutter und Juaren waren unter ihnen. Holzrauch umschwebte sie, ließ ihre Gesichtszüge undeutlich werden und verbarg ihren Ausdruck. Bebend und bleich wandte sich Reyna von der Plaza ab und floh durch die Flure des Palastes in ihre Gemächer. Sie sah klar vor sich, was sie zu tun hatte, und sie mußte fest daran glauben, daß sie es vermochte; daß sie den Stein erlangen konnte, um sich durch ihn zu härten. Als sie sich jedoch übers Bett warf, bestand der Kloß in ihrem Hals nicht länger aus
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