Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
unausgesprochenem Protest, nicht aus eingeweinten Tränen. Er bedeutete Furcht,' entsetzliche Furcht. Er war die Angst – die Bestie, mit der sie von jetzt an Tag und Nacht leben mußte, bis sie gehen und ihre Prüfung annehmen würde.
3 Reyna
Die Bestie setzte ihr die nächsten Händevoll Tage hart zu. Reyna übte manchmal in der Abgeschiedenheit des Trainingsraumes, in dem die Fackeln lange Schatten warfen, manchmal auf der Plaza und zuweilen in den Feldern und Obstgärten. Sie tat alles, wovon sie wußte, daß es sie stählen würde. Sie lief und turnte, kletterte und sprang. Sie rief die hellhaarigen Jugendlichen aus den Hallen auf, mit ihr zu kämpfen und ihr zuliebe Tiermasken zu tragen: Sie flocht Zielscheiben und schleuderte den Spieß nach ihnen. Sie tat Dinge, die nicht einmal ihre Schwester getan hatte; Dinge, von denen sie in den Rollen gelesen oder die sie aus Erzählungen aufgeschnappt hatte.
Sie trieb sich selbst bis zum Äußersten an und taumelte jede Nacht in einen tiefen, erschöpften und traumlosen Schlaf; sie vergaß alles, sogar die Schmerzen in ihren Muskeln. Als ihr Training fortgeschritten war, wachte sie häufig auf und fühlte sich stark. Sie erwachte und fühlte sich ihrer selbst sicher; ihr Verstand war klar, der Körper gestählt, und sie wußte, daß sie ihrem Tier gegenübertreten und es besiegen könnte. Aber selbst da konnte sie es noch nicht über sich bringen, den Termin öffentlich anzukündigen, den sie sich für ihre Prüfung gesetzt hatte. Denn an anderen Tagen war ihr Zutrauen dahingeschwunden, und sie fühlte sich keineswegs stark genug; nicht einmal in den ersten ruhigen Augenblicken des Tages.
Das störte sie, denn sie nahm sehr deutlich wahr, was um sie herum geschah. Ihre Mutter hatte Juaren für die warme Jahreszeit auserwählt. Er schlief in ihren Gemächern, und zuweilen hörte Reyna sie sich am Abend halblaut unterhalten. Ihre Gespräche schienen emotionslos, steif und belanglos zu sein. Gelegentlich tanzten sie spät in der Nacht auf der Plaza. Reyna beobachtete es von ihrem Fenster aus und ersah aus der Art, wie sie sich hielten, daß keiner der beiden mit dem anderen tanzte. Jeder tanzte für sich allein, sogar wenn ihre Hände sich berührten.
Am Eßtisch schienen sie ebenfalls jeder für sich zu sein; sie schwiegen und sahen einander kaum an. Anfangs blickte Juaren jedesmal auf, wenn Reyna sich zu ihnen gesellte, und sie sah dieselbe spontane Frage in seinen Augen, die sie in der Holzrauchnacht auf der Plaza darin gelesen hatte. Aber gleichgültig, was sie über die Gewohnheiten anderer Barohnas wußte – die sich Gefährten nahmen, wann es ihnen beliebte –, konnte Reyna Juarens Blick nicht erwidern, wenn er auf dem Platz ihres Vaters saß. Auch konnte sie es nicht über sich bringen, ihn zu begrüßen, wenn sie ihn außerhalb des Speisesaales traf. Er hatte nicht nur den Platz ihres Vaters eingenommen, sondern seine bloße Gegenwart war eine öffentliche Bezeugung des mangelnden Vertrauens, das ihre Mutter in sie setzte. Jedesmal, wenn sie seiner ansichtig wurde, minderte es ihren Wert in ihren eigenen Augen. Der Schmerz darüber war beinah faßbar, fast konnte sie ihn körperlich spüren. Wenn ihre Mutter nur zuerst mit ihr gesprochen hätte; wenn sie nur Zutrauen in ihre Vorbereitungen hätte, in ihre Stärke ...
Bald blickte er nicht mehr auf, wenn sie den Speisesaal betrat. Bald lernte er, sie nicht länger wahrzunehmen; am Tisch, auf den Korridoren oder auf der Plaza. Aber auch mit den Menschen des Tales suchte er keine Bekanntschaft. Die Einsamkeit der Berge war um ihn, wohin immer er ging; wie eine Barriere, ein schützender Schild.
Reyna fragte sich, wogegen er ihn schützen sollte. Erwartete er auch von den Leuten der Hallen, daß sie ihn zurückweisen würden? Ihr Vater war im Tal beliebt gewesen. Hatte Juaren davon gehört? Erwartete er, daß alle so fühlten wie Reyna?
Oder erwartete er aus einem besonderen Grund, daß man ihn nicht willkommen heißen würde? Hatte man ihn anderswo derart behandelt? Er aß seltener und seltener im Speisesaal, als die warme Jahreszeit fortschritt. Statt dessen aß er allein auf der Plaza; er hockte auf den Platten und zeigte sich ungerührt von den Blicken, die ihm die Vorübergehenden zuwarfen. Und er verbrachte viel Zeit damit, mit gekreuzten Beinen auf einer Mauer zu sitzen, die einen Blick über die westliche Plaza hinaus gestattete, und zu beobachten, wie die Luftwagen der Arnimis landeten und
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