Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
anderes?
Sie wußte so wenig. Zuweilen drängten sich ihr Fragen auf, aber sie wies sie ungeprüft zurück. Weil sie sich vor ihnen fürchtete? Weil Maiilin Fragen gestellt und geschrien hatte und ein Grummler geworden war? Oder einfach deshalb, weil die Fragen die Erinnerung an Maiilin zurückbrachten, und mit ihnen den bedrückenden Gedanken an ihr eigenes Versagen? Hätte sie sich an jenem Tag nicht versteckt und statt dessen Maiilin begleitet ...
Tsuuka lief durch die Bäume und wehrte sich ihrer Gedanken nicht. Und es waren viele. Wie waren die vernunftlosen und verwundbaren Spinner in der Lage, die Seiden zu erschaffen, die so klug in ihrem Geist stummreden konnten? Entstand die Klugheit der Seiden durch etwas, das die Spinner in sie hineinwoben? Oder spiegelten sie eine verborgene Klugheit der Spinner wider? Weshalb verwandelten sich die Gedanken, die die Ungesehene, die Spinner und die Seiden verbanden, in Nachtmahre, wenn sie den Geist eines Sithi berührten? Nur weil die Sithis Sithis waren, und keine Spinner oder Seiden? Weil die Vorstellungen, die dem einen Geist verständlich waren, einem andersartigen Verstand finsteren Schrecken bedeuteten?
Und was war mit Maiilin geschehen? Konnten es ihr Spinner angetan haben? Tsuuka wußte, daß die Spinner im Herzen des Waldes ein und aus gingen. Aber weshalb sollten Spinner Maiilin mit Fäden aus ekelhaft riechender Seide umschnürt haben? Und wie hätten Spinner ihre Intelligenz auslöschen können? Und aus welchem Grund? Die mysteriösen Wesen, die Maiilin in hohlen Bäumen gesehen zu haben behauptet hatte, blind und halbgeformt – vielleicht hatte sie sie wirklich gesehen. Aber wer oder was waren sie?
Tsuuka knurrte gepeinigt während ihres Laufes. Wenn sie Maiilin begleitet hätte, würde sie vielleicht etwas über diese Wesen erfahren haben.
Vielleicht aber – ein plötzlicher Schauder lief ihr über den Rücken – wäre sie jetzt auch ein Grummler, wenn sie bei Maiilin gewesen wäre. Vielleicht würden sie dann jetzt beide durch die äußeren Bezirke des Waldes wandern und schreien, wenn die Seiden sangen.
Schwarze Klauen schlossen sich um ihr Herz. Es war Maiilin widerfahren. Es konnte ebenso leicht ihr widerfahren. Dariim aber durfte es nicht geschehen. Tsuuka rannte schneller und ließ die Muskeln ihren eigenen Rhythmus finden. Dankbar nahm sie zur Kenntnis, daß ihr Herz entsprechend der Anstrengung rascher schlug. Anderenfalls hätte sie seinen beschleunigten Schlag für Furcht gehalten.
Die Bäume um sie wuchsen dichter und wurden höher; ihre Stämme waren mit Moos und Flechten bewachsen.
Selbst der Geruch der Luft hatte sich verändert; sie war dumpfer und stickiger geworden. Unter einer Schicht aus verrottenden Blättern war der Boden feucht, als erreiche ihn niemals das Sonnenlicht, um ihn zu trocknen. Die Stille war dumpf wie die Luft. Keine Spinner plapperten hier, kein Sithi keckerte oder knurrte, und keine kleineren Beutetiere huschten umher. Hier herrschte nichts als Stille.
Dennoch war die Stille nicht vollkommen. Denn als Tsuuka weiter durch die Bäume hindurch lief, hörte sie in der Ferne eine Stimme. Ihre Füße kamen aus dem Rhythmus und ließen sie ungeschickt taumeln. Sang eine Seide zwischen den dichten Bäumen? Hier gab es keine Nester. Obwohl die Spinner kamen und gingen, trugen sie keine Seiden mit sich; nicht hierher.
Aber der Gesang war unverwechselbar; deutlich und rein – und wild. Denn diese Seide sang im Sonnenschein. Sie bezog die Energie für ihre Stimme aus der strahlenden Sonne und drückte in ihrem Gesang ein Gefühl aus, wie es Tsuuka noch nie von einer Seide vernommen hatte. Hier war keine Süße. Hier gab es keine feinen Empfindungen. Kein erregendes Wohlgefühl. Hier waren Aufbegehren, Triumph und Hohn.
Tsuuka verlangsamte verwundert ihren Lauf. Dariims Fährte war hier stärker. Tsuuka folgte ihr, bis sie an eine Stelle kam, wo sie in mehrere Richtungen zugleich führte. Tsuuka hielt an und knurrte. Dariim war offenbar im Kreis gelaufen und hatte einander überkreuzende Fährten hinterlassen. Wenn sie nur wüßte, welcher sie folgen sollte Tsuuka hob den Kopf und spähte zwischen die Bäume.
Ihre Kehle zog sich warnend zusammen. Ein kastanienbrauner Schatten hing am stark bemoosten Stamm eines hohen Baumes. Dariim war dabei, diesen Baum zu erklimmen; sie hatte die Ohren zurückgelegt und hieb die Krallen in die dicke Borke. Und über ihr hing, in den höchsten Zweigen verheddert, eine rote Seide. Sie
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