Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
hielt sich am Baum fest und streckte sich der Sonne entgegen; ihr Gesang klang erregt, als verlieh ihr die Sonne die Stimme.
Eine Meisterseide, wie sie als Vervielfältigungs-Matrizen dienten – jemand hatte eine Kopierseide freigesetzt. Jetzt erkannte Tsuuka die besondere Eigenschaft der Stimme. Kopierseiden wurden die meiste Zeit im Verborgenen gehalten, wo sie nach Licht und Wind und Freiheit schmachteten. Aber zuweilen banden die Spinner sie für eine kurze Zeit am Ufer des Flusses fest, nachdem sie sie benutzt hatten, um Singseiden herzustellen. Dann erklang eine eigenartige Klage in ihrem Gesang, als wären Erinnerungen in ihrem Seidengewebe gefangen, die gegen die Gefangenschaft aufbegehrten.
Aber nun hatte jemand eine Kopierseide freigesetzt, und Dariim kletterte den moosbewachsenen Stamm hinauf zu ihr. Als sie sich ihr näherte, indem sie sich auf waghalsige Weise vom Stamm auf einen Ast und von dort aus auf einen dünneren Zweig schwang, befreite sich die Seide und flatterte eine Strecke davon, während ihr Gesang verachtungsvoll ertönte.
Tsuuka hielt den Atem an, als sich die dünnen Zweige unter Dariims Gewicht bogen. Dariim, die ihre Absicht vereitelt sah, kletterte zu einer sichereren Stelle zurück und spähte zu dem Ast hin, an dem die Seide jetzt hing. Sogar vom Boden aus konnte Tsuuka das gierige Verlangen in ihrem Blick und das Beben ihrer angespannten Muskeln erkennen.
Sie sprang vor und erhob ärgerlich ihre Stimme, als Dariim auf dem Boden ankam: »Was habe ich dir gesagt, was habe ich dir gepredigt ...« Sie stieß die Worte rauh hervor; dieselben Worte, die ihre Mutter vor Jahren hätte gesagt haben können; Worte, die der Zorn diktierte: »Habe ich dir nicht befohlen, daß du nicht hierher gehen solltest? Und habe ich dir nicht gesagt, weshalb? Trotzdem muß ich dich hier finden. Hier ...«
Dariim wirbelte herum und sah ihr mit erschreckt geweiteten Augen ins Gesicht. Augenblicklich wurden die Pupillen ihrer gelben Augen starr. Sie grunzte überrascht.
Aber weder die Verblüffung noch die Verärgerung ihrer Mutter vermochten den Bann zu brechen, der auf ihr lag. Bevor Tsuuka weitersprechen konnte, schoß Dariim hinter ihr her und schlug die Krallen in den Baum, in dem die Seide jetzt hing.
Hilflos sah Tsuuka zu, wie ihre Tochter den glatten Stamm hinaufhastete. Hilflos seufzte sie auf, als die Seide ihren herausfordernden, feurigen Gesang vom äußersten Ende des zartesten Zweiges her anstimmte und aufflatterte, als Dariim mit ausgefahrenen Krallen auf den schwingenden Zweig kroch.
Heftiger Schmerz durchzuckte Tsuukas Herz. Was konnte sie tun, wenn ihr Junges nicht auf sie hören wollte? Was konnte sie tun, wenn ihr Junges von einer Kopierseide verzaubert war? Sollte sie selbst die Seide fangen?
Zu einer anderen Zeit wäre sie vor dieser Vorstellung zurückgeschreckt. Kein Sithi fing eine Kopierseide. Und kein Sithi war in diesem dichten Teil des Waldes willkommen. Sie konnte die Ablehnung in der Luft spüren. Es gab hier ein Geheimnis, das nicht offenbar werden durfte.
Aber sie konnte nicht zulassen, daß Dariim der Verstand geraubt würde, wie es bei Maiilin geschehen war. Diesen Kummer könnte sie nicht ertragen.
Sie knurrte, um sich Mut zu machen, und sprang auf den Baum zu, in dem sich die Seide diesmal verfangen hatte; den höchsten und ältesten von allen. Wütend hieb sie die Krallen in die Rinde und spürte das schwammige Moos am Bauch, als sie hochkletterte. Dieser Baum hatte einen fremdartigen Geruch an sich. Er roch nicht so sauber und trocken wie der, auf dem Tsuuka ihr Nest erbaut hatte. Merkwürdig modrige Luft schlug aus seinem hohlen Inneren, als gäbe es Leben darin.
Aber was konnte im Inneren eines Baumes leben? Wäre es blind? Oder gestaltlos?
Ihr blieb keine Zeit für derlei Fragen. Die Kopierseide bewegte sich wie eine Raupe von Ast zu Ast, während sie ihr höhnisches Lied sang. Tsuuka blickte hinab und sah Dariim am Fuß des Baumes zögern. Flüchtig wunderte sie sich, daß ihre fehlgeleitete Tochter die Krallen noch nicht in die Rinde geschlagen hatte. Zuvor hatte sie bestimmt nicht gezögert.
Da erklangen aus dem Inneren des Baumes, aus einer Höhlung im Stamm, Geräusche, als bewege sich etwas darinnen. Zuerst hörte Tsuuka ein zunehmendes Schrillen von Stimmen, einen so intensiven Lärm, daß ihre Ohren klangen. Dann spürte sie ein erregtes Beben unter ihren Pfoten, als schwärmten darinnen Dutzende von Leibern in kopflosem Aufruhr durcheinander.
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