Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
stand auf und starrte über die silbern schimmernde Ebene.
»Juaren ist nicht zurückgekommen«, sagte sie.
»Nein«, erwiderte Verra.
Gab es denn nichts, was sie in dieser Hinsicht unternehmen konnten? Reynas Lippen waren plötzlich trocken.
»Meinst du, eine von uns sollte gehen und ihn suchen?« fragte sie. »Wenn etwas passiert ist ...«
»Ich meine, wir sollten genau hier warten, wie wir es gesagt haben«, sagte Verra bestimmt. »Er hat seinen Weg im Winter über die Berge gefunden. Er wird auch hier den Weg zurück finden.«
»Du hast natürlich recht«, stimmte Reyna zu, aber die Worte kamen ihr nur schwach über die Lippen, und ihre Hand zitterte, als sie das Tierjunge streichelte. Denn falls Juaren nicht zurückkommen sollte, falls ihm etwas zugestoßen sein sollte, bevor sie Gelegenheit gehabt hätten, nochmals miteinander zu reden, falls etwas mit ihm auf der Erkundung geschehen wäre, die sie veranlaßt hatte ...
War es eine unkluge Suche? Eine mangelhaft vorbereitete Nachforschung? Reyna drängte ihre plötzliche Besorgnis zurück. Ihr war von Anfang an klar gewesen, daß ihr etwas zustoßen konnte; daß sie vielleicht niemals nach Brakrath zurückkehren würde. Wenn jedoch etwas mit Juaren geschähe, oder mit Verra; einfach, weil sie ihr Gesellschaft geleistet hatten ...
»Ich habe es mir einfacher vorgestellt«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Ich hatte gedacht, wir würden hier ankommen und vorfinden ... was eben hier zu finden ist ...«
Ihre Stimme versiegte. Gar nichts war einfach gewesen. Sie waren angekommen, sie hatte Birnam Rauths Gesang gelauscht, aber sie hatte nicht die geringste Idee, wie sie bei ihrer Suche vorgehen sollte. Sie hatte keine Vorstellung, wie sie ihn finden könnte. Jetzt war Juaren in den Wald gegangen und nicht zurückgekommen. Sie hielt ein schlafendes Tierjunges in den Armen, allein das bedeutete eine Verantwortlichkeit, der sie nicht nachzukommen vermochte. Und sie wußte nicht einmal, welcher der Sterne, die sie heute nacht erblickte, auch auf Brakrath schien oder ob es im Terlath-Tal Morgen oder Abend war. Entmutigt schüttelte sie den Kopf.
»Nichts ist einfach«, tröstete sie Verra. »Niemals. Aber Juaren wird den Weg finden, und wir werden es auch.«
Das waren nur Worte. Sie waren leicht auszusprechen und plötzlich ungeheuer schwer zu glauben. Reyna berührte die Seide an ihrer Taille; inzwischen verstand sie einiges von dem, was sie in der vergangenen Nacht aus Birnam Rauths Gesang gehört hatte, besser. Ihr eigenes Lied strömte wieder aus ihrem Inneren hervor; wortlos und voll von den gleichen Dingen: Zweifel, Einsamkeit und Furcht. Sie lauschte dem Gesang ihres Herzens, während sie das schlafende Tierkind wiegte und darum betete, daß Juaren seinen Weg zurück finden möge.
10 Reyna
Später konnte sich Reyna nicht mehr daran erinnern, wann sie ihre Nachtwache abgebrochen hatte und eingeschlafen war. Während sie auf ihrem Wachtposten saß, wachte das Junge zweimal auf und winselte, bis sie es fütterte. Das erste Mal fiel es rasch wieder in Schlaf. Beim zweiten Mal wand es sich unruhig in ihren Armen, und in seinen Schlitzaugen stand ein Vorwurf geschrieben, den zu lesen sie nicht fähig war. Sie drückte das Tierchen instinktiv enger an ihren warmen Körper und fragte sich, ob ihm seine ungeübten Sinne die Fremdheit ihrer beiden so unterschiedlichen Rassen spüren ließen. Oder war es nur deshalb so wach, weil sie es in ihrer ganzen Ahnungslosigkeit versäumt hatte, es mit etwas zu versorgen, das es benötigte?
Wie konnte sie ahnen, was es brauchte? Vielleicht hatte sie es zu stark gefüttert, vielleicht auch unzureichend; vielleicht hatte sie ihm die falsche Nahrung gegeben. Sie fragte sich, ob seine Mutter es beruhigte, indem sie es wiegte oder liebkoste, oder indem sie ihm ein Lied sang. Sie versuchte all dies, schaukelte das kleine Geschöpf in den Armen und flüsterte ihm Nachtgesänge ins fellbewachsene Ohr. Aber es bewegte sich nur noch unruhiger; Verra wälzte sich nervös auf ihrem Lager herum und murmelte unwillig und schläfrig.
»Es ist schon gut, ich versuche nur, es zum Schlafen zu bringen. «
Verra stützte sich auf einen Ellbogen und rieb sich die Augen. »Möglicherweise ist es ein Nachttier. Möchtest du, daß ich es für eine Weile zu mir nehme?«
Ein Nachttier? War das vielleicht der Grund, weshalb seine kleinen Augen im Mondlicht zu leuchten schienen und weshalb es immer unwilliger wurde?
»Nein, ich wecke dich
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