Sternenstaub (German Edition)
die Frauen darum, Kinder in die Welt zu setzen. Für mehr blieb kaum Zeit. Nur der Urgroßvater von Tjara und Jón, der sollte ein Krie-ger aus einem fernen Land gewesen sein. Erst ziemlich zum Ende seines Lebens hatte er sich in Naren niedergelassen und heute sprach kaum noch jemand von ihm, denn ein solches Leben hielt hier niemand für erstrebenswert. Seine Geschichten waren ohnehin immer als Spinnerei eines alten Mannes abgetan worden. Als Jón und Tjara noch klein ge-wesen waren, hatten sie, sehr zum Missfallen ihrer Eltern, fasziniert den Abenteuern aus fernen Ländern gelauscht. Von Drachen, Zauberern, Elfen und gewaltigen Schlachten hatte Urgroßvater Belwor erzählt. Mit kindlicher Leiden-schaft hatten sie all die haarsträubenden Abenteuer nachge-spielt und, unter Anweisung des alten Mannes, mit Holz-schwertern ein wenig Kämpfen erlernt. Auch nachdem Belwor, im hohen Alter von über neunzig Jahren, gestorben war, hatten Tjara und Jón mit ihren spielerischen Kämpfen nicht aufgehört. Jón träumte davon, eines Tages selbst ein großer Krieger zu werden.
Sie liefen zum Waldrand, um einige Beeren zu pflü-cken, als aus dem dichten Unterholz rechts von ihnen ein Reiter brach. Das große braune Pferd war schweißüber-strömt und hatte einen langen Riss in der Flanke. Es war kein normaler Ackergaul, oder keines der Bergponies, die halbwild in den Bergen lebten, sondern ein Kriegshengst. Muskelbepackt, beeindruckend und mächtig. Tjara und Jón blieben mit offenen Mündern stehen.
„Gibt es in der Nähe ein Dorf?“, fragte der Reiter, welcher nicht weniger beeindruckend wirkte. Als es im Unterholz knackte, warf er einen gehetzten Blick über die Schulter, entspannte sich jedoch, als ein Reh auf die Wiese sprang.
Der Mann war mit einem Lederpanzer bekleidet, darunter trug er ein Kettenhemd. Außerdem hatte er ein silbern glänzendes Schwert an der Seite hängen, dessen Parier-stange mit fremden Zeichen verziert war. Seine schwarzen Haare waren, ebenso wie die des Pferdes, schweißverklebt. An der fingerdicken grauen Strähne, die seine halblangen Haare durchzog und an den grauen Augenbrauen erkannte man, dass er bereits die erste Hälfte seines Lebens über-schritten hatte. Im Gesicht und an den Händen waren meh-rere Narben zu sehen.
„Könnt ihr nicht sprechen?“, fuhr er die beiden jungen Leute an, die ihn wie eine Erscheinung anstarrten.
Schließlich räusperte sich Jón und deutete nach Süden.
„Etwa fünf Meilen in diese Richtung.“
Der Krieger nickte und wollte sich abwenden, doch da sprang eine schattenhafte Gestalt aus dem Unterholz und stürzte sich knurrend auf ihn.
Reflexartig zog er sein Schwert, sprang vom Pferd, und hieb mit gezielten Schlägen auf die riesige Bestie ein, die wese ntlich größer und furchteinflößender wirkte, als die gewöhnlichen Wölfe der Berge.
Tjara und Jón schauten fasziniert und entsetzt zugleich zu. Der Kampf des Kriegers glich einem Tanz. Immer wieder wich er zurück, griff an und schließlich gelang es ihm, das Wesen zu treffen. Mit einem langen Riss in der Seite ver -schwand es nun jaulend im Wald.
Der Mann nickte zufrieden und erst jetzt sah Tjara, dass er einen blutdurchtränkten Verband um seinen rechten Ober -schenkel gewickelt hatte.
„Gibt es eine Kräuterfrau in eurem Dorf?“, fragte er.
„Ja“, erwiderte Tjara, die ihre Sprache wiedergefunden hat-te. „Wir können euch hinbringen. Aber was war das für ein Wesen?“
Der Fremde winkte ab und schwang sich auf sein Pferd, scheinbar wollte er nichts sagen.
„Wer ist er?“, flüsterte das Mädchen aufgeregt, als sie zum Wagen liefen.
„Keine Ahnung“, erwiderte Jón und seine Augen blitzten. „Aber er ist ein Krieger. Hast du ihn kämpfen gesehen?“
Tjara nickte und schlug dem gemütlichen Ackerpferd die Leinen auf den breiten Rücken.
Bald hatten sie zu dem Fremden aufgeholt, der im Schritt in Richtung Dorf ritt. Mit verschlossenem Gesichts-ausdruck blickte er geradeaus.
„Wo kommt i hr her?“, wagte Jón nach einer Weile zu fragen.
„Aus Scedana“, erwiderte der Krieger mit der dunklen Stimme. Als er Jóns fragendes Gesicht sah, fügte er hinzu: „Die größte Stadt des Westlands.“
„Natürlich“, sagte Jón, obwohl er keine Ahnung hatte, wo Scedana liegen sollte.
Der Krieger hob, offensichtlich belustigt, die grauen Au-genbrauen und trieb sein erschöpftes Pferd weiter.
Irgendwann reichte Tjara ihm mit zitternder Hand ihren
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