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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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Gegenüber. Wie sollte er ihr erklären, was er selber kaum begriff, ihr, der Henkel, von der sie im Bahnhofsrevier gesagt hatten, sie sei ein bißchen doof? Manchmal redete seine Mutter ja mit ihm, doch sah sie noch immer wie vor Jahren aus, warum wurde sie nicht älter?
    »Ich möchte es nicht als Behinderung der Ermittlungen auslegen«, sagte Ina langsam. »Du weißt, daß ich die Angehörigen aufsuchen muß.«
    »Natürlich ist mir das bekannt, es ist –« Er atmete tief ein, wollte den Satz zu Ende sprechen, überhaupt erst einmal zu Ende denken, aber plötzlich war alles weg. Es passierte ihm manchmal, daß er nicht weitersprechen konnte, weil etwas gerissen war im Kopf, so als würde ihm eine ferne Macht alle Gedanken entziehen. Hatte sie das gemerkt? Er traute sich nicht, sie anzusehen und hörte ihre Stimme wie aus einem anderen Land: »Gab es außer diesem Steffen Kemper noch andere – ehm – Freunde eurer Mutter?« Sie hob eine Hand und ließ sie in der Luft hängen.
    Er nickte. »Christian. Aber ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Das war vor Steffen, da haben wir in einem Dorf gelebt, im Vogelsberg. Es war schön da. Christian war Fotograf, sie haben sich bei einem Interview kennengelernt.« Er nahm das Sternenbild aus seiner Brieftasche und legte es auf den Tisch. Inas Gesicht blieb ausdruckslos, doch hörte er ein leises Seufzen, bevor sie fragte: »Wo lebt dieser Christian jetzt?«
    »Er lebt nicht mehr.« Er schloß die Augen und lauschte, weil jemand schrie. Robin nicht, nein, der kleine Robin sitzt still am Tisch, ein Zwerg auf einem extra hohen Stuhl, der den Löffel in seinen Brei fallen läßt und sich freut, wenn es spritzt. Sein leises Schmatzen war das einzige Geräusch. Katja hatte ihnen das Frühstück gemacht und war nach oben gegangen, um Christian zu wecken, doch sie kam nicht zurück. Keine Schritte oben, kein Lachen wie sonst, es war so still wie nie. Dorian erinnerte sich an diese Stille, weil ein Schrei sie auseinanderriß, ein langgezogener, wimmernder Schrei, in dem er die Stimme seiner Mutter erkannte. Er lief nach oben und sah Christian im Bett liegen; Christian ist ein Murmeltier, hatte Katja einmal gesagt.
    Ein Murmeltier schläft lange, das wußte er, ein Murmeltier steht nicht gerne auf. Aber wenn das so war, warum schrie sie so laut? Seine Mutter kniete vor Christians Bett und hatte den Kopf auf seine Brust gelegt, aber sie konnte doch gar nicht richtig in ihn hineinhorchen, weil sie dauernd seinen Namen rief; Chris, schrie sie, Chris, nein, nein, nein, Chriiis. Noch nie hatte ihre Stimme so geklungen, Chris, bitte, Chris, und Dorian wußte nicht, was passiert war, aber er wußte, es war schlimm. Vielleicht hatte er ein Geräusch gemacht und sie gerufen, denn wenn er Angst bekam, rief er immer nach ihr. Hastig drehte sie sich zu ihm um, und er sah, daß ihre Augen trocken waren, obwohl ihre Stimme gerade so klang, als würde sie weinen. Er sah sie aufspringen und auf ihn zulaufen, und ihre Hände, die eben noch Christians Schultern umklammerten, hielt sie jetzt vom Körper weg, als wären sie naß geworden, und sie fand kein Handtuch zum Trocknen. Er fühlte, wie sie ihn packte und die Treppe heruntertrug, und ihr Gesicht war ganz fremd geworden, grauer und älter, als hätte sie niemals gelacht. In der Küche rührte Robin immer noch in seinem Brei, aber sie zog ihn raus aus seinem Stuhl und fing wieder an zu schreien, komm Robbi, komm Dori, komm.
    Sie wußten nicht, wohin es ging, doch sie flogen. Katja trug Robin auf dem Arm und zog Dorian hinter sich her, und sie flogen durch das ganze Dorf, über Wiesen und Straßen, bis sie anfingen zu weinen, alle drei. Jemand brüllte ihnen Böses hinterher, das wußte er noch, weil Katja nicht richtig angezogen war, nur etwas Kurzes trug, das neben ihnen hersegelte im Wind. Als sie wieder zu Atem kamen, konnte er das Zittern ihrer Schultern fühlen, und er erinnerte sich, daß auch ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Dori, ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    Sie hat doch immer alles gewußt.
    Als das Zittern aufhörte, erzählte sie ihm, daß Christian woandershin gegangen ist und die Leute sagen würden, Christian ist tot. Das stimmte aber nicht, weil tot sein hieß, man ging woandershin, wo man für die anderen immer noch lebte. Richtig tot, sagte sie, ist nur der, an den niemand mehr denkt.
    Er sah auf, weil er das Gefühl hatte, die ganze Welt wäre stumm geworden, doch war es nur in seinem Kopf so still. Robbi, du

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