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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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kaputt. Manchmal war es ja so, daß Zeitungen logen.
    Dorian erinnerte sich daran, er erinnerte sich an alles, nur nicht an das Gesicht des Coladosenwerfers. Ein Kopf im Schattenlicht, Schultern, ein Arm; so oft hatte er sich ausgemalt, wie er wohl aussah, doch es war ihm nicht gelungen. Sogar jetzt mußte er wieder an ihn denken, als er den toten Körper im Gras liegen sah, ob nicht der Coladosenwerfer die Schuld daran trug, daß alles so gekommen war.
    Der Mann ohne Gesicht. Robin und Dorian hatten in der ersten Reihe gesessen und ihr Lied hören wollen, Katjas Lied von den Sternen, und wenn sie es auch an diesem Abend nicht richtig gesungen hatte, so war Dorian doch sicher gewesen, daß sie zurückkehren und es zu Ende singen würde, viele Jahre lang hatte er das geglaubt.
     
    Er suchte die Sterne, doch kein Licht drang durch die Zweige der Bäume, ringsum nur Dunkelheit. Es war still. Er atmete kaum. Er kniete auf dem Boden und spürte die warme, feuchte Luft auf seiner Haut, unter seinen Händen Erde und Blätter vom Baum. Langsam kroch er nach vorn, und das Geräusch, das er dabei machte, das Schleifen seiner Schuhe auf dem Boden, war das einzige, was zu hören war. Vor ihm, wie ein Schattenriß, der Stein.
    Was sonst, es gab nur Steine hier, Steine und Knochen und Erde und Gras, und er tastete nach seiner Taschenlampe, um zu gucken, wer da lag.
    Grauschwarze Buchstaben unter der Flamme, MARIA … RUHE IN …
    Er hörte seinen Atem wie ein Keuchen oder Schluchzen, doch war es lange her, seit er geweint hatte, Jahre. Außerdem kannte er die Leute ja nicht, Maria, wer immer das gewesen war, und Paul, ihr lieber Mann daneben, PAUL MEIER-MARTINI … 1941 – …
    Auf einem Grabstein sah ein Doppelname noch viel blöder aus.
    Er sah zurück zum Tor, sah das zuckende Licht des Streifenwagens und hörte Nicole mit dem Mann reden, der sie gerufen hatte, doch hier war er ganz allein. Keine Maria, kein Paul, kein richtiger Mensch mehr auf diesem Fleckchen Erde außer ihm. Er kroch weiter, bis seine Hand die andere Hand berührte, sie war kalt. Erneut nahm er die Taschenlampe und sah etwas Weiches, Dunkles, etwas, das zu fließen und sich wie das letzte Viertel des Mondes über die Erde zu legen schien.
    Was einem so einfiel. Es war eine Decke, die über dem Körper lag, nur über dem Körper, denn das Gesicht war frei. Der Tote sah ihn an und guckte doch an ihm vorbei. Er trug seine Brille noch, kleine ovale Gläser vor den aufgerissenen Augen, was man sich vorstellen mußte – er selber war kaputt, aber die Brille war noch heil.
    Manche Leute vertrugen ja keine Kontaktlinsen, bekamen rote Augen davon wie ein Vampir in der Nacht.
    Seine Hand schaute unter der Decke hervor, und Dorian drückte sie mit aller Kraft, denn das mußte ihm weh tun, das mußte er jetzt spüren, doch er spürte es nicht, und Dorian flüsterte mit ihm, weil man den Toten noch irgend etwas sagen mußte.
    Er war so fremd. Lag hier oben auf der Erde, während alle anderen darunter lagen. Dorian berührte sein Haar unter der Kapuze. Wie Filz fühlte es sich an. Es war still um ihn herum, bis auf das Wispern in den Bäumen, und er lag jetzt so lange, bis sie ihn holten, er ging von alleine hier nicht weg.
    »Komm«, flüsterte er, »komm.«
    Komm, hatte sie gerufen, komm Robbi, komm Dori, komm. Es war lange her, und jetzt erinnerte er sich daran, ihre Mutter hatte sie an den Händen genommen, und als sie mit Riesenschritten über die Straße rannte, waren sie fast hinterhergeflogen, denn ihre Füße hatten den Boden nicht mehr berührt, kommt, wir müssen weg. Wenn er die Augen schloß, konnte er ihr Weinen noch hören, ihre gehetzte Stimme und das Nasehochziehen, das er nicht mochte, kommt, kommt, kommt!
    Ja. Er mußte zum Wagen zurück. Als er sich umdrehte, sah er Nicole. Im Lichtkegel seiner Taschenlampe schien ihr rotes Haar zu leuchten, und er hörte sie etwas murmeln, das wie »Ach du liebes bißchen« klang.
    Minuten später standen sie am Streifenwagen, dessen Licht blaue Blitze auf die Friedhofsmauer warf. In der Dunkelheit legte es Graffiti frei, tanzte über verschmierte Buchstaben, denen man ansah, daß jemand sich vergeblich bemüht hatte, sie wegzukratzen, LIEBE TRUDI … FUCK ME … FUCK TRUDI. Nicole lehnte sich über die Motorhaube, als sie mit der Bereitschaft der Mordkommission telefonierte; sie war die schönste Polizistin, die Dorian kannte, mit dunkelrotem Haar und grünen Augen. Vielleicht nahm sie ihm insgeheim ja übel, daß

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