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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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er sie alles allein machen ließ, doch konnte er kaum sprechen, weil er den Schlüssel zu den Wörtern nicht mehr fand. So hatte seine Mutter es ihm früher erklärt, wenn er sauer war und nicht reden wollte, jetzt hast du alle Wörter eingesperrt und findest den Schlüssel nicht mehr. Dann lächelte sie und fragte: Soll ich suchen helfen?
    »Ich bin durchaus bei Verstand«, sagte Nicole ins Telefon. »Männliche Leiche, obenauf, noch nicht begraben.« Sie sah aus, als würde sie gleich kichern, dann legte sie eine Hand auf die Sprechmuschel und drehte sich zu Dorian um. »Es ist schwer zu verstehen.«
    Er nickte und las erneut die Schrift auf der Mauer, LIEBE TRUDI.
    LIEBER DORI, mit Kreide auf eine große Tafel gemalt, sein Geburtstagsgruß. Seine Mutter hatte noch ein Gedicht darunter geschrieben, an das er sich nicht mehr erinnern konnte, doch mußte es zu jener Zeit gewesen sein, als sie am Bahnhof lebten, und wenn er die Augen schloß, sah er Straßen und Häuser, sah er Robin und sich selbst, wie sie auf dem Platz vor dem Bahnhof mit Coladosen kickten. Das Bahnhofsviertel war der letzte Ort, an dem sie alle zusammen waren, sein Bruder und er und ihre Mutter. Im Laden von Frau Manz hatte Robin Lutscher und Schokobrötchen gekauft; jeden Morgen mußte die dicke Frau Manz sich über die Theke beugen, um den kurzen Robin zu sehen, den sie immer Bubele nannte, Bubele, was willste? Viel wollte er haben, Negerküsse, Fußbälle, ein Rennrad und das Meer.
    Als er sie noch nicht so gehaßt hatte, dachte Robin immer, daß Katja ihnen das alles schenken könnte, Meer hatte er gekräht und wollte es haben, ohne zu wissen, was das ist, das Meer. Ich hol dir das Meer, sagte sie, als sie ihn abends badete und mit beiden Händen das Wasser auf seinen Bauch platschen ließ, ich hol dir das Meer, Robbi, ich hol dir die Sterne.
    Dorian drückte die Fingerkuppen auf die Augen, wie er es als Kind gemacht hatte, um die Welt aus seinen Träumen zu verscheuchen. Es half aber nichts, die Welt ging nicht weg. Er war bei der Arbeit. Er war Polizist und sicherte einen Leichenfundort, und hinter seinen Augen brannte das blaue Licht seines Einsatzwagens. Er mußte aufhören zu denken, aber er konnte nicht, weil die Geschichten aus seinem Kopf nicht verschwinden wollten. Robin hatte immer und überall getrödelt, und wenn er endlich angezuckelt kam, Lutscher in der Hand und Kappe auf dem Kopf, lachte er bloß und schrie: »Was rennste so?« Er schrie immer, das war so seine Art.
    Nachdem sie aus dem Dorf weggegangen waren, hatten sie in einer Wohnung im Ostend gelebt, nicht mehr mit dem Fotografen, sondern mit einem anderen Mann, an den Dorian sich kaum noch erinnern konnte. Steffen hieß der, das war ihm später wieder eingefallen, Steffen Kemper. Es war ja auch schnell wieder zu Ende gewesen, und sie waren ins Bahnhofsviertel gezogen, wo sie in zwei Hotelzimmern mit Verbindungstür wohnten, in einem ihre Mutter und in dem anderen Robin und er. Manchmal war die Verbindungstür abgeschlossen und man hörte Geräusche drüben, doch ihre Mutter war immer herübergekommen, hatte einer von ihnen geweint.
    Tausend Geschichten konnte man am Bahnhof erleben, wenn man zur Schule ging oder heim. Es gab breite, glitzernde Treppen, auf denen Männer mit Mikrofonen standen und andere Männer lockten, und es gab Frauen, die beim Gehen schaukelten, was sie immer nachmachen wollten, ohne daß sie es je lernten. Manchmal trafen sie Leute mit blauen Lippen und roten Augen, die weggeworfene Zigarettenstummel einsammelten, um aus fünf Stummeln eine neue Zigarette zu machen. Es war lustig, die Stummel mit der Fußspitze woanders hinzuschieben und zuzugucken, wie sie suchten, doch mußte man aufpassen, alles lag herum. Mit den Füßen konnte man auch an ganz andere Sachen stoßen, an Scherben oder an Kondome, von denen ihre Mutter sagte, daß sie Präser hießen. Einmal hatte Robin eine Spritze gefunden und sich getraut, sie anzufassen, vorsichtig, mit einem Tempo oder mit Zeitungspapier, und die hatten sie dann ihrer Mutter gebracht, als wären sie Fernsehkommissare, die Spuren sicherten im Krimi.
    »Wirf die weg«, hatte sie Dorian angeschrien, obwohl Robin die Spritze in der Hand hielt, »wirf die verdammt noch mal weg!«
    Tausend Geschichten und die ganze Welt; wenn sie nachmittags am Bahnhof bei den Gleisen standen und aus den Lautsprechern hörten, wohin die Züge fuhren, dann fuhren sie in Gedanken hinterher, nach Rom, nach Dortmund und nach Istanbul.

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