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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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er sich selbst immer wieder neu aus dem Hut zaubern, daß es ihr den Atem verschlug.
    Er strahlte sie an. »Da hatte ich noch langes Haar, meine Liebe. Nee, meine Musik war das aber nicht, wie ich schon sagte. Wundert mich also, daß Sie die nicht kennen. Ziemlich schrill. Aber an die Frau erinnere ich mich gut. Immer ungekämmt, trotzdem sehr schön.« Er räusperte sich. »Ja, was ist denn aus der geworden?«
    »Das genau ist die Frage.« Kissel streckte die Finger aus, als zähle er ab. »Das Opfer ist ihr Sohn. Und Polizeimeister Dorian Kammer auch. Und Mama hat noch keine Ahnung, daß sie nur noch einen Nachkommen hat.«
    Ina malte ein Kreuz in ihr Notizbuch. Immer wieder konzentrierten sich die verschwommenen Bilder in ihrem Kopf auf einen einzigen Punkt, so wie eine Kamera unbeholfen durch einen Raum tanzt, um endlich ein Objekt zu fokussieren. Der tote Junge auf dem Friedhof war zugedeckt wie ein schlafendes Kind. Sein abgewetztes Notizbuch, KaKa, 1000, -, KaKa, 500, -. Sie sah Kissel nicht an, als sie fragte: »Bist du sicher?«

[ 5 ]
    Als er aufstand, saß ein kleiner schwarzer Vogel auf dem Fensterbrett. Dorian sah zu, wie er sich putzte, einmal kurz mit seinem gelben Schnabel gegen die Scheibe klopfte und dann weiterflog. Der war gut dran. Konnte machen, was er wollte, konnte fliegen.
    Er öffnete den zweiten Fensterflügel, trotzdem spürte er die dumpfe Luft wie eine Schlinge um den Hals. In Tillmanns Haus war das Fenster viel kleiner gewesen, ein Gefängnisfenster ohne Gitter, das sich nicht richtig öffnen, sondern nur kippen ließ. Tagelang hatten Robin und er im Winter das Licht brennen lassen, und manchmal hockte einer von ihnen auf dem Fensterbrett wie der kleine Vogel vorhin/preßte die Nase gegen die Scheibe und konnte nicht fliegen.
    Es war so still hier. Früher, wenn Robin ihn besuchte, knallten die Türen und quietschten die Sohlen seiner schicken Schuhe, wenn er sich wie eine Ballerina zu drehen begann, wenn er lachte und rief: »Können Bullen sich bloß ’n Zweizimmerloch leisten?« Etwas quengelig hatte seine Stimme immer geklungen, heiser und auch böse, so wie er selbst geworden war, mit jedem Jahr ein bißchen mehr. Nie hatte er sich darum geschert, wenn andere hörten, was er sagte – hey, guck dir die Tante da an, Nilpferdstampfer, muß aber Leggings tragen – doch jetzt war seine Stimme verstummt für die Welt, und nur Dorian allein konnte sie noch hören. Sein Bruder war ein kleiner Wicht in seinem Körper, der tanzte und plauderte und sang.
    Etwas war geschehen in der Nacht, als er vor dem Leichenhaus stand. Er rieb sich den Nacken – eigentlich hatte er ja nur von Robin Abschied nehmen wollen in einem stillen Gebet, weil das am Fundort nicht möglich war vor all diesen Leuten. Doch sein Bruder wollte leben. Ja, er hatte Robin gesehen, wie er in das weiße Tuch gehüllt das Leichenhaus verließ, leichtfüßig tanzend wie ein Geist, und dann war es passiert. Robin ergriff Besitz von seinem Körper. Er kroch einfach hinein. Dorian hatte sich nicht wehren können, und er hatte es nicht gewollt, denn wer konnte das schon wollen? Niemand konnte wollen, was er nicht begriff, doch war es geschehen. Sein Bruder schlüpfte in ihn hinein, so schnell und gewandt, wie er getanzt hatte Minuten zuvor. Und er blieb, er ging nicht mehr raus, vielleicht, weil die Toten stärker als die Lebenden waren.
    Es war alles so schnell gegangen. Wie hatte er das gemacht? Dorian hatte die ganze Nacht lang überlegt, auf welchem Weg er hineingekommen war, durchs Genick? Ja, er war von oben gekommen, hatte sich noch gestreckt Sekunden zuvor, das war das Letzte, was er von Robin gesehen hatte. Doch jetzt spürte er ihn. Er war schwer. Das Dümmste aber war: Man konnte sich nicht wehren, man begriff es nicht, und dennoch war es wahr. Es mußte damit zusammenhängen, daß Robin leben wollte und es aus eigener Kraft nicht mehr konnte. Nimm mich mit, hatte er gerufen, trag mich. Fast lautlos seine Stimme, unhörbar für die Welt. Sie waren wendig, diese Toten, und stark.
    Dorian schüttelte den Kopf. Das glaubte ihm sicher kein Mensch. Doch man mußte die Erfahrung selber machen, nur dann hörte man mit dem Staunen auf. Er hatte ja gehofft, daß Robin am Morgen wieder weg sein würde, doch er blieb, blieb in seinem Körper drin, und Dorian spürte sein Gewicht und hörte, wie er sang. Die ganze Zeit tat ihm der Nacken weh, weil Robin sich streckte in ihm, um noch etwas von der Welt zu sehen. Vielleicht war er

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