Sterntaucher
wie wurde man Reflexe los? Da könnte sie sich ja genauso gut das Atmen abgewöhnen oder den Hunger oder die Lust auf einen Kerl. Sie sah auf ihre Schuhe, als wäre Fürchterliches damit passiert, ein Vogelschiß, ein Riß im feinen Leder, und lauschte der monotonen Stimme des Pathologen, bis der rief: »Gucken Sie mal hier!«
Gut, na gut – eine Leber wohl, soweit man das erkennen konnte. So eine hast du selbst, siehst sie nur nie. Kriegst überhaupt nie die Möglichkeit, in deinen Körper hineinzusehen, in dem diese inneren Teile herumblubbern wie Teig in der Schüssel. Sie guckte hin und sagte sogar »Schön«, eine blöde Angewohnheit, bevor sie den Kopf wieder drehte, um sich in ihr Bett zurückzuträumen. Fünf Uhr morgens, Tommys schlaftrunkenes Lächeln und seine Finger, die langsam über ihren Bauch krabbelten, bevor der Wecker in sein Blickfeld geriet und er sagte: »Jo, ich muß.« Der Kicheranfall, der sie da überkommen hatte und der die schwere Müdigkeit halbwegs vertrieb.
»Hier rein«, sagte der Pathologe, »und dann hier und hier, sehen Sie?«
Ja. Sie schrieb es auf und überlegte, wie der Pathologe eigentlich hieß, es war etwas Polnisches, und da kannte sie sich doch inzwischen aus. Tom konnte seinen Namen gewissenhaft buchstabieren, wann immer sich die Möglichkeit bot, Czerwinski Tomas, vorne mit Cäsar-Zacharias, hinten mit Ida und Tomas ohne Heinrich. Einleuchtend, wenn man es begriffen hatte. Neunzehn Czerwinskis waren versammelt, wenn die Familie zusammenkam, und jeder Einzelne fand es schick, auf diese Art zu buchstabieren.
»Da«, sagte der Pathologe neben ihr, »sehen Sie, wie im Rausch. Können Sie mal ’ne richtige innere Blutung sehen.«
»Ja«, sagte sie und blickte auf Robin Kammers Hände. Wie klein die waren. Tom war auch nicht besonders groß, zumindest nicht größer als sie, und wenn sie ihre Lieblingsschuhe trug, ging er zwei Meter neben ihr her. Blöde Gedanken, ein einziger Wirbel im Kopf, ich liebe dich hieß auf polnisch kocham cie. War eine komische Sprache, die sich fauchend anhören konnte und drohend, so wie der Fluch, den Tom ausgestoßen hatte, als sie ihn kennenlernte, und den er ihr bis heute nicht übersetzen wollte. Am Bahnhof war das gewesen, er stand vor einem Bumslokal und guckte zu, wie Sanitäter das Opfer einer Messerstecherei versorgten. Drei Wochen vorher war er auf Bewährung entlassen worden, ein kleiner Autodieb, der panisch reagierte, als er Ina Henkel mit zwei uniformierten Polizisten durch die Menge auf sich zukommen sah. Er rannte weg, was sie überhaupt erst auf ihn aufmerksam machte, doch war es kinderleicht, ihn einzuholen, denn er drehte sich beim Laufen dauernd um. Sie erreichte ihn zwei Sekunden vor den Uniformierten und drehte ihm so vorbildlich die Arme auf den Rücken, daß sie wünschte, eine Horde Polizeischüler hätte es gesehen. Auf die Flüche, die der Zappelnde ausstieß, achtete sie nicht, erstens aus Prinzip und zweitens, weil dieses Gezeter eines kriminellen Ausländers ja ohnehin kein Mensch verstand. »Wie – heißen – wir – denn?« hatte sie ihn im Präsidium gönnerhaft gefragt, worauf er leise sagte, er kenne ihren Namen nicht, er selber heiße Czerwinski und habe nichts getan. Als er dann auf diese langatmige Weise seinen Namen buchstabierte und sie anstarrte bei jeder Frage, die sie ihm stellte, wäre sie in seinen Bernsteinaugen fast ertrunken.
»Hat man auch nicht alle Tage«, hatte sie ihm später gesagt, »so ’n süßes polizeiliches Gegenüber, dem die Jeans immer enger wird.«
Zufrieden hatte er genickt. »Das hat dir gefallen.«
»Klar, mit dem letzten Typ, das war drei Monate her.«
»Was für ein Glück«, sagte er, »daß du mich eingeholt hast.«
»Ist wild gestochen worden, aber trotzdem planlos, will ich mal sagen.« Der Pathologe spitzte die Lippen. Koslowski hieß er vermutlich oder Kaminski.
»Hat er lange –«, fing sie an. »Ich meine, ist es schnell gegangen?« Alles war dunkel in Robin Kammers Körper, Blutklumpen, wo sie vermutlich nicht hingehörten.
»Wenn man das immer wüßte«, sagte er – Opialski, richtig, Dr. Opialski. »Ich vermute es. Ich hoffe es für ihn. Es sieht so aus, als wäre er überrascht worden. Hätte er die Chance gehabt, sich zu wehren, hätten wir Spuren an den Händen finden müssen, Sie wissen das vielleicht.«
»Das weiß ich allerdings«, murmelte sie und sah Robin Kammer ins Gesicht, ein Engel mit bläulichen Schatten auf den geschlossenen Lidern.
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