Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
haarige Mann hatte Tristrans zerrissenen Mantel, seine löchrige Weste und Hose genommen, ihn selbst mit einer Decke zurückgelassen und war in das Dorf gegangen, das sich in das Tal zwischen den heidekrautbedeckten Hügeln schmiegte.
    Tristran saß unter der Decke und wartete; der Abend war warm.
    Direkt hinter ihm flackerten Lichter im Weißdorngebüsch. Er hielt sie für Glühwürmchen oder Leuchtkäfer, aber bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich als winzige Leute, die von Ästchen zu Ästchen flitzten.
    Tristran hüstelte höflich. Eine Menge winziger Äuglein starrten auf ihn herab. Mehrere der kleinen Kreaturen verschwanden. Andere zogen sich in den Weißdornbusch zurück, während eine Handvoll besonders mutiger Gestalten auf Tristran zukamen.
    Mit hohen, glockenklaren Stimmchen begannen sie zu lachen, zeigten auf Tristran mit seinen kaputten Stiefeln und seiner Decke, in Unterwäsche und mit dem Bowler auf dem Kopf. Tristran errötete und zog die Decke enger um sich.
    Eines der kleinen Wesen sang:
     
    Heißa hopsassa Junge mit Decke,
    er geht jetzt auf große Jagd und will finden einen Stern.
     
    Ganz unbestreitbar
    Reist er durchs Feenland
    Nimm ab die Decke
    Wir wollen sehn, wer du bist.
     
    Und ein anderes trällerte:
    Tristran Thorn
    Tristran Thorn
    Weiß nicht, warum er ist geborn.
    Hat einen dummen Eid geschworn
    Hose und Mantel und Hemd sind verlorn
    Deshalb sitzt er hier im Dorn
    Bald blüht ihm seiner Liebsten Zorn
    Wistran
    Bistran
    Tristran
    Thorn.
     
    »Fort mit euch, ihr albernen Gesellen«, rief Tristran, aber sein Gesicht brannte, und weil er nichts anderes zur Hand hatte, warf er seinen Bowler nach den kleinen Wesen.
    Als der kleine haarige Mann vom Dorf Jubeltrubel zurückkehrte (niemand wußte, warum es so hieß, denn es war seit Menschengedenken ein düsterer, melancholischer Ort), fand er Tristran denn auch in seine Decke gewickelt und niedergeschlagen neben dem Weißdornbusch sitzen und den Verlust seines Hutes betrauern.
    »Sie haben gemeine Dinge über meine Angebetete gesagt«, erklärte Tristran. »Über Miss Victoria Forester. Wie können sie das wagen?«
    »Das kleine Volk schreckt vor nichts zurück«, meinte sein Freund. »Und sie reden eine Menge Unsinn. Andererseits reden sie aber auch eine Menge gescheites Zeug. Man hört ihnen auf eigene Gefahr zu, aber man ignoriert sie auch auf eigene Gefahr.«
    »Sie haben gesagt, mir würde bald der Zorn meiner Liebsten blühen.«
    »Ach ja?« Der kleine haarige Mann legte verschiedene Kleidungsstücke auf der Wiese aus. Selbst im Mondschein konnte Tristran sehen, daß sie keinerlei Ähnlichkeit mit den Sachen aufwiesen, die Tristran vorher ausgezogen hatte.
    Im Dorf Wall trugen die Männer Braun, Grau und Schwarz, und selbst das röteste Halstuch, das der rotbackigste Farmer sich umband, verbleichte bald unter der Sonne und dem Regen zu einem weniger auffälligen Farbton. Nun blickte Tristran auf das knallrote und grellgelbe und rostbraune Tuch herab, auf Kleider, die mehr wie Kostüme von durchreisenden Spielleuten aussahen oder wie der Inhalt von Cousine Joans Verkleidungskiste, und sagte: »Sollen das meine Kleider sein?«
    »Jawohl, das sind jetzt Eure Kleider«, antwortete der kleine haarige Mann stolz. »Ich hab’ sie eingetauscht. Das Zeug ist von bester Qualität – seht her, wie reißfest und robust es ist – und weder zerfetzt noch löchrig. Außerdem stecht Ihr dann weniger als Fremdling ins Auge. So etwas tragen die Leute hier in der Gegend, wißt Ihr.«
    Einen Augenblick lang spielte Tristran mit der Idee, den Rest seines Abenteuers in eine Decke gehüllt zu bestehen, wie ein unzivilisierter Eingeborener aus einem seiner Schulbücher. Doch dann zog er seufzend die Stiefel aus, ließ die Decke ins Gras sinken und war mit Hilfe des kleinen haarigen Mannes, der sich über die Ungeschicklichkeit des jungen Mannes wunderte, bald in seine neuen Sachen gekleidet.
    Die neuen Stiefel paßten ihm besser, als es die alten je getan hatten.
    Und die Kleider waren wirklich von sehr guter Qualität. Obwohl der Spruch »Kleider machen Leute« entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung nicht stimmt und feine Federn noch lange keinen feinen Vogel machen, so sorgt entsprechende Kleidung doch gelegentlich für einen gewissen Pfiff. In Knallrot und Kanariengelb war Tristran Thorn nicht derselbe wie in seinem biederen Mantel und dem Sonntagsanzug. Vorher war sein Gang nicht so stolz, seine Bewegungen nicht so beschwingt gewesen.

Weitere Kostenlose Bücher