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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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die oberen Stockwerke
     über die Stahltreppe. Lamartines Führer befand sich bereits auf der mittleren Etage. Auch Lamartine stieg die Treppe hinauf.
     Das Geländer war eiskalt.
    Als er oben ankam, hatte der Hüne schon das andere Endeder Balustrade erreicht und schloß eine Zellentür auf. Er schaute in Lamartines Richtung, um sich dessen Aufmerksamkeit zu
     vergewissern, und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf die Zellentür. Lamartine ging auf ihn zu, das Stahlgestell schien
     ein wenig zu schwanken, sein Schritt wurde breiter.
    Der Hüne ließ seinen Schlüsselbund in der Tasche verschwinden und stieg über die nächste Treppe wieder hinab. Als er sah,
     daß der Franzose vor der Zelle verharrte, wedelte er mit beiden Händen. Offensichtlich hielt er die Situation für gefährlich,
     Lamartine sollte schnell eintreten. Oben waren Schritte zu hören. Jemand durchquerte die dritte Etage. Der Hüne verschwand.
     Lamartine zog die mit Stahlbändern verstärkte Zellentür auf und trat schnell ein.
    Die Zelle war kleiner, als Lamartine erwartet hatte. Es handelte sich um einen höchstens drei bis vier Meter langen und etwa
     zwei Meter breiten Raum, an dessen Front sich ein Oberlicht befand. An der Wand stand eine Pritsche, auf der ein Mann in Sträflingskleidung
     saß. Es handelte sich um Wilhelm Stieber.
    Stieber war so grau wie seine Uniform, seine Wangen waren eingefallen, er erschien Lamartine noch schmächtiger, als er ihn
     in Erinnerung hatte. Stieber sah den Besucher mit müden Augen an. Er schielte wirklich. Jetzt, wo sein Blick nicht mehr so
     bestimmend war, offenbarte sich ein unsicheres Zittern in den Pupillen. Unwillkürlich schaute Lamartine auf Stiebers Hände.
     Sie waren ineinander verkrampft und schienen einen endlosen Zweikampf auszutragen.
    Stieber erhob sich langsam wie ein Mensch unter Schmerzen. »Ich kann Ihnen nicht einmal einen Platz anbieten, Kollege«, sagte
     er mit leiser Stimme in perfektem Französisch.
    Lamartine stammelte: »Sie   ... Sie sind inhaftiert?«
    »Glauben Sie, ich habe das alles inszeniert, um Eindruck auf Sie zu machen?«
    Jetzt verstand Lamartine, jetzt wußte er, warum er sich weiterhin in Berlin bewegen konnte, ohne festgenommen zu werden,jetzt wußte er, warum die Witwe keinen Erfolg mit ihrer Denunziation gehabt hatte. Stieber saß im Gefängnis, er hatte keine
     Macht mehr. Lamartine hätte schreien können vor Freude. Alles war ganz anders, nicht er war der Verlierer, Stieber hatte verloren.
    »Ich kann verstehen, daß Sie jetzt triumphieren!« sagte Stieber, seine Mundwinkel zuckten. Dann fiel ihm etwas ein, er ging
     zum Abtritt – einem Holzkasten, der dem im Anhalter Bahnhof ähnelte – und setzte sich auf den Deckel. »Nehmen Sie doch bitte
     auf der Pritsche Platz, Monsieur Lamartine!« sagte er mit einer einladenden Handbewegung. »Im Stehen läßt sich das nicht bereden,
     was wir zu bereden haben.«
    Lamartine ließ sich auf der Pritsche nieder. Sie war ungewöhnlich hart. Erst als er Stieber auf gleicher Höhe gegenübersaß,
     bemerkte er, daß der Deutsche verletzt war, seine rechte Schläfe war geschwollen und stark gerötet – auch die Nase hatte etwas
     abbekommen.
    »Sind Sie geschlagen worden?« fragte Lamartine.
    Stieber zuckte mit den Achseln. »Es waren nicht die Justizbeamten. Die gingen in Preußen noch nie sanft mit ihren Gefangenen
     um, aber sie machen sich keinen Spaß daraus, einen Menschen zu quälen – dafür sind sie zu leidenschaftslos.«
    »Wer war es dann?«
    »Ich rede ungern darüber. Körperliche Gewalt liegt weit unter unserem Niveau, oder?«
    Lamartine dachte an den vergifteten Mann im Bois de Boulogne und schwieg.
    »Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht   ...« fuhr Stieber fort, »...   was diejenigen mit Ihnen tun würden, die Sie ins Gefängnis gebracht haben, wenn Sie in ihre Gewalt gerieten? Glauben Sie mir,
     Ihre Vorstellungskraft reicht dafür nicht aus! Ich habe, Gott sei Dank, noch ein, zwei Menschen, die mich davor schützen,
     erschlagen und in eine Gemeinschaftslatrine gesteckt zu werden. Aber daß der kleine Hühnerdieb, den ich überführt habe, nun
     sein Mütchen an mirkühlt, können die beiden auch nicht verhindern. Zumal das hier das größte Gefängnis Berlins ist und sie allein gegen eine
     riesige Übermacht stehen.«
    »Soll das heißen, die Berliner Kriminellen haben Sie in diese Lage gebracht?«
    »Bewahre! Preußen ist ein Verfassungsstaat. Die Politiker haben die Zügel

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