Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
fest in der Hand. Hier kann kein stadtbekannter
Verbrecher Polizeikarriere machen wie Ihr Vidocq in Paris ...« Lamartine wollte etwas entgegnen, aber Stieber hob seine Stimme. »Was nicht heißt, daß es nicht Politiker gibt, die Verbrecher
sind! Nein, ich wurde ganz ordnungsgemäß hier inhaftiert. Die Schikanen sind jedoch nicht offizieller Natur. Wobei ich mir
sicher bin, daß man sie höheren Ortes gerne in Kauf nimmt.«
»Sie wurden also von den Mithäftlingen geschlagen?«
»Es handelt sich bei den hier Inhaftierten zu einem großen Teil um Verbrecher, die entweder ich persönlich oder meine Mitarbeiter
überführt haben. Schläge sind noch das Wenigste. Ersparen Sie mir Einzelheiten! Man hat mich die meiste Zeit hier in der Zelle
gelassen, aber gestern abend wurde ich hinausgeführt. Ins Bad.« Er zog den Ärmel seines Anstaltshemdes hoch. Die Haut des
dünnen Unterarmes war rot entzündet und verschrumpelt.
»Verbrüht!« stieß Lamartine hervor.
Stieber zog den Ärmel schnell wieder über die Verletzung. »Mit heißem Wasser aus der Küche. Ein Pole, dem ich umfangreiche
Betrügereien an Berliner Kleingewerbetreibenden nachgewiesen habe.«
»Was ist passiert?« fragte Lamartine.
Stieber atmete tief durch. »Ich habe Ihnen in Frankreich schon davon berichtet, daß der neue Kaiser meine Arbeit nicht sehr
schätzt. Der Mann ist ein guter Politiker, aber er legt keinen Wert auf den Flankenschutz seiner Politik. Man hat ihn mit
diesen Dingen immer verschont. Sogar als Bismarck den bayrischen König Ludwig dazu genötigt hat, für unseren Königals deutschen Kaiser zu stimmen, glaubte der immer noch, Ludwig habe aus Überzeugung gehandelt. Ihnen ist diese Haltung doch
sicher nicht fremd, Lamartine? Die Politiker schmücken sich mit Erfolgen, die wir erst möglich gemacht haben, aber sie wollen
– um Gottes willen – nicht mit uns in der Öffentlichkeit gesehen werden.«
»Ich bin Polizist und kein Geheimdienstler, Herr Stieber!«
Stieber überging diesen Einwand. »Nach dem Frankreichfeldzug war der Jubel groß in Berlin. Wir sind nun deutsche Hauptstadt,
wir stellen sogar den deutschen Kaiser. Daß Blut dafür hatte fließen müssen, will keiner mehr wahrhaben – auch nicht, daß
vorher sehr, sehr viel Schmutz weggeräumt werden mußte. Sowohl in der Heimat als auch in Frankreich. Niemand weiß das besser
als Sie, Lamartine.« Selbst jetzt, wo er so tief in der Patsche sitzt, bleibt er hochmütig, dachte Lamartine bitter. »Man
gab mir den Laufpaß. Selbst mein Schlag gegen den französischen Widerstand, an dem Sie auch einen beträchtlichen Anteil hatten,
Lamartine ...«
»Sie verdrehen die Dinge!« entfuhr es Lamartine.
Anscheinend hatte Stieber Lamartine nur reizen wollen, denn er fuhr gelassen fort: »Selbst diesen Erfolg wollten die Herren
nicht anerkennen. Kein Wunder, sie waren auf einen schnellen Abschluß des Feldzuges aus und hatten – aus Gründen, die die
Heimat betrafen – keinerlei Interesse an langwierigen Scharmützeln mit Partisanen. Haben Sie davon gehört, daß deutsches Militär
Ihrer Regierung sogar bei der Niederschlagung der Kommune behliflich war?«
Lamartine nickte.
»Sicher finden Sie das ebenso eigenartig wie ich. Der gemeine Soldat fragt sich doch: Um was ging es eigentlich? Doch nicht
etwa um diese vermaledeite Thronfolge in Madrid?«
Heuchler, dachte Lamartine, ich kenne dich längst, ich weiß, daß dir die Ziele dieses Krieges von Anfang an klar waren.
»Ich weiß, daß Sie anders sind als ich, Lamartine. Sie glauben an die Gerechtigkeit und an die Gleichheit unter den Menschen.Sie verabscheuen Gewalt und alles, was nicht hundertprozentig mit den Gesetzen und der Verfassung übereinstimmt. Wissen Sie
was, Lamartine, ich bewundere Sie wegen dieser Haltung. Ich finde, Sie sind der bessere Mensch von uns beiden. Sie glauben
an das Gute und an die Vernunft. Das ist eine Auffassung, mit der man sich abends gut niederlegen kann. Leider aber nur eine
Auffassung, ein Ideal, mit dem man vielleicht in seiner Familie gut leben kann – übrigens: wie geht’s Ihrer Frau?«
Das war zuviel für Lamartine – er wischte Stiebers Frage mit einer unwirschen Bewegung weg.
»Verstehe! Der französische Staat ist sicher auch nicht großherziger als der deutsche. Wir sind beide Opfer der Politik. Aber
finden Sie nicht auch, Lamartine, daß das ausnahmsweise mal etwas ist, was wir gemeinsam haben, ja, was uns sogar vereint?«
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