Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
Vom Netzwerk:
Geländer der Plattform war das Fahrziel angegeben: Alexanderplatz. Die
     Beine des Schaffners steckten in einem Ledersack, er trug einen Zylinder und einen Zweireihermantel mit einem weiß umrandeten
     Kragen.
    Die Witwe bezahlte dem Schaffner nur einen Teil des Geldes, das Lamartine ihr gegeben hatte, der Rest verschwand in ihrer
     Tasche. Der Wagen ruckte. Lamartine griff nach einer der Lederschlaufen, die an zwei Holzstangen hingen. Die alte Wilke wollte
     nach oben, auf die Plattform. Ein zweiter Schaffner stellte sich ihr in den Weg. »Oben dürfen weibliche Fahrgäste sich nich
     offhalten. Wejen der Rempelei beim Fahren!«
    Die Witwe stieß einen Jungen an – einen Schüler offensichtlich, dessen Eltern sich die Fahrt mit dem Omnibus leisten konnten.
     Der Junge machte seinen Sitzplatz frei. Kaum hatte sie Platz genommen, begann sie dennoch leise vor sich hin zu schimpfen.
     Der Junge lief rot an, und die Fahrgäste schüttelten die Köpfe.
    Lamartine achtete auf die Straßenschilder. Irgendwann bog der Bus in eine Magistrale ein, die nach Lamartines Meinung nur
     wenige Häuserblocks weiter südlich zur Prachtstraße »Unter den Linden« verlief. Der Omnibus fuhr immer noch in östlicher Richtung.
     Nach etwa einer Viertelstunde Fahrt stand die Alte plötzlich auf. Sie bückte sich, um durch die Fenster auf die Straße sehen
     zu können. Lamartine hörte sie schnaufen. »Anhalten!« kreischte die Witwe.
    Der Schaffner wankte – sich von Schlaufe zu Schlaufe hangelnd – zu der Witwe hin. Der Mann schien Geschrei gewöhnt zu sein,
     er blieb gelassen vor der Alten stehen und musterte sie. »Wat ham Se denn, Muttchen? Is Ihnen irjendwat nich bekommen oda
     wat?«
    Die Wilke schaute ihn an. Ihre Unterlippe zitterte. »Anhalten, ha’ ick jesacht, Herr Kontrollör. Wir müssen hier raus meen
     Begleiter und icke.«
    »Jetzt stellen Se sich mal vor, jeder Fahrjast blökt hier rum,wenn ihm danach is. Det wär’ doch ’ne jemeine Blökerei in so einem vollbesetzten Waachen, nich?«
    »Ick muß trotzdem aussteijen. Wir müssen zur Stadtvogtei.«
    Das Gemurmel der anderen Fahrgäste verstummte schlagartig.
    »Ach, so is det! Dachte ick mir doch jleich, dat Se so eene sind.« Der Schaffner rief mit tiefer Stimme nach vorne: »Justav,
     zieh de Bremse, hier is eene, die will in de Burg!«
    Der Kutscher auf dem Bock drehte sich nach der Witwe um. Dann zog er die Zügel an und betätigte gleichzeitig eine lange Handbremse,
     die rechts neben ihm aus dem Chassis ragte. Die Pferde schnaubten, der Wagen ruckte – und kam leicht schlingernd zum Stehen.
    »Jehören Sie zu der Ollen?« fragte der Schaffner Lamartine.
    »Ich bin Franzose«, antwortete der schnell.
    Der Schaffner sprach jetzt etwas lauter. »Ein Franzmann! Machen Se in der Stadtvogtei bloß ’n Besuch oder wollen Se länger
     bleiben?«
    Es wurde gelacht. Die Witwe drängelte sich zur Mitteltür durch. Lamartine folgte ihr. Jemand stellte ihm ein Bein, er mußte
     sich an einer Schlaufe festhalten, um nicht hinzuschlagen. Als er auf der Straße stand, sah er das vor Vergnügen rötlich gefärbte
     Gesicht des Schaffners zwischen den anderen Fahrgästen. »Is ja jut, daß unser Erbfeind nun die Anreise selbst macht. So muß
     unser Kaiser ja nich erst die Jendarmerie nach ihm schicken.« Jetzt lachten alle. Die Rosse ächzten, ihre Hufe schienen einen
     Moment lang keinen Halt mehr auf dem Pflaster zu finden, dann fuhr der Wagen mit einem Quietschen der Blattfederung an.
    »Det hat man nu davon, wenn man sich mit Ihresjleichen sehen läßt«, schimpfte die Witwe. »Eijentlich müßte ick dafür extra
     wat valangen.«
    »Stieber wird Sie schon nicht schlecht bezahlt haben.«
    »Der Herr zahlt momentan nichts!« entgegnete sie und überquerte die Straße knapp vor einem Brauereifuhrwerk, dasvon zwei Gäulen mit Augenklappen gezogen wurde. Der Fuhrmann, der eine Lederschürze trug, knallte mit der Peitsche, und die
     Witwe hob die Faust. Lamartine ließ dem Bierkutscher die Vorfahrt und folgte dann der Witwe in Richtung Norden.
    Nach nicht einmal hundert Metern öffnete sich ein weiter Platz mit einem kleinen, grauen Wochenmarkt. Die Händler bauten die
     leergekauften Holzstände ab, verwelkter Gemüseabfall lag auf dem Boden. Lamartine blieb stehen. Er war benommen von dem Anblick.
     In der Mitte stand ein Gebäude, das ihn an die Pariser Oper erinnerte, rechts und links davon wurde der Platz durch zwei riesige
     Turmbauten, zwei Dome, begrenzt, die

Weitere Kostenlose Bücher