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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Beziehung; sie brauchte nicht weiterzuwachsen, diese so freundliche Beziehung. Und das war für Sibylle wohl das Traurige; nach zwanzig Minuten ist man mit diesen Menschen so weit wie nach einem halben Jahr, wie nach vielen Jahren, es kommt nichts mehr hinzu. Es bleibt bei dem offenherzigen Wunsch, daß es dem andern wohlergehe. Man ist befreundet, um es in irgendeiner Weisenett zu haben, und im übrigen gibt es ja Psychiater, so etwas wie Garagisten für Innenleben, wenn einer Defekte hat und nicht selber flicken kann. Jedenfalls soll man nicht seine Freunde mit einer traurigen Geschichte belasten; sie haben dann auch, in der Tat, nichts zu liefern als einen ebenso allgemeinen wie unverbindlichen Optimismus. Da legt man sich schon lieber an die Sonne auf dem kleinen Dachgarten. Und doch, so sehr Sibylle offenbar Mühe hatte mit dieser leutseligen Beziehungslosigkeit der allermeisten Amerikaner, war sie weit von dem Gedanken entfernt, in die Schweiz zurückzukehren ... Nach einem langsam verebbten Briefwechsel, nach einem gegenseitigen Schweigen, das endgültig zu werden drohte, meldete sich Rolf, ihr Mann, eines Nachmittags durch Anruf in ihrem Büro. »Wo bist du denn?« fragte sie. »Hier«, antwortete Rolf, »in La Guardia. Eben gelandet. Wie kann ich dich treffen?« Er mußte bis fünf Uhr warten, da Sibylle ja nicht einfach weglaufen konnte, und schließlich wurde es beinahe sechs Uhr, bis Sibylle, die Sekretärin, in der genannten Hotel-Lobby am Times-Square erschien. »Wie geht’s dir?« fragten sie einander. »Danke« sagten beide. Sibylle führte ihn über den Times-Square. »Wie lange bleibst du denn hier?« fragte sie; aber natürlich konnte man in dem Gedränge kaum sprechen. Sie führte Rolf, den benommenen Ankömmling, auf den Rockefeller-Turm, um ihm sogleich etwas von Neuyork zu zeigen. »Bist du geschäftlich in Neuyork?« fragte sie und verbesserte sich: »Ich meine: beruflich?« Sie saßen in der bekannten Rainbow Bar und mußten etwas bestellen. »Nein«, sagte Rolf, »ich komme deinetwegen. Unsertwegen ...« Sie fanden einander ziemlich unverändert, nur etwas älter. Sibylle zeigte die neuesten Bilder von Hannes. »Kein kid mehr, nein, schon ein richtiger guy!« Rolf ließ sie nicht allzu lange erzählen. »Ich bin gekommen«, sagte er, »um dich zu fragen – Ich meine: entweder scheiden wir uns oder wir leben zusammen. Aber endgültig.« Anderes fragten sie einander nicht. »In welcher Richtung wohnst du denn?« erkundigte sich Rolf, und Sibylle zeigte ihm die Gegend, überhaupt das Lichterspiel, die so unwahrscheinlich farbige Dämmerung über Manhattan, eine Attraktion, die wohl jeder Manhattan-Besucher kennt; nicht jeder findet dabei die Frau seines Lebens wieder ... »Babylon!« meinte Rolf, der immer wieder hinunterschauen mußte in dieses Netz von flimmernden Perlenschnüren, in diesen Knäuel von Licht, in dieses unabsehbare Beet von elektrischen Blumen. Man wundert sich, daß in dieser Tiefe da unten, deren Gerausch nicht mehr zu hören ist, in diesem Labyrinth aus quadratischen Finsternissenund gleißenden Kanälen dazwischen, das sich ohne Unterschied wiederholt, nicht jede Minute ein Mensch verlorengeht; daß dieses rollende Irgendwoher-Irgendwohin nicht eine Minute aussetzt oder sich plötzlich zum rettungslosen Chaos staut. Da und dort staut es sich zu Teichen voll Weißglut, Times-Square zum Beispiel. Schwarz ragen die Wolkenkratzer ringsum, senkrecht, jedoch von der Perspektive auseinandergespreizt wie ein Bund von Kristallen, von größeren und kleineren, von dicken und schlanken. Manchmal jagen Schwaden von buntem Nebel vorbei, als sitze man auf einem Berggipfel, und eine Weile lang gibt es kein Neuyork mehr; der Atlantik hat es überschwemmt. Dann ist es noch einmal da, halb Ordnung wie auf einem Schachbrett, halb Wirrwarr, als wäre die Milchstraße vom Himmel gestürzt. Sibylle zeigte ihm die Bezirke, deren Namen er kannte: Brooklyn hinter einem Gehänge von Brücken, Staten Island, Harlem. Später wird alles noch farbiger; die Wolkenkratzer ragen nicht mehr als schwarze Türme vor der gelben Dämmerung, nun hat die Nacht gleichsam ihre Körper verschluckt, und was bleibt, sind die Lichter darin, die hunderttausend Glühbirnen, ein Raster von weißlichen und gelblichen Fenstern, nichts weiter, so ragen oder schweben sie über dem bunten Dunst, der etwa die Farbe von Aprikosen hat, und in den Straßen, wie in Schluchten, rinnt es wie glitzendes Quecksilber. Rolf kam nicht

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