Stiller
auch die Fehler der eben verstorbenen Generation zu übernehmen, und was ich beispielsweise im Munde habe, sind fast lauter Fehler. Nur mit hilflosen Blicken kann ich den jungen Mann bitten, meine Kronen doch nicht als das Werk seines verstorbenen Onkels zu betrachten, meine Zähne nicht als die Zähne des verschollenen Stillers. Er ruft:
»Fräulein – geben Sie nochmals den Röntgen-Status von Herrn Stiller!«
All dies, wie gesagt, verdanke ich meinem Verteidiger. Man glaubt mir nicht; jedesmal, wenn seine Pinzette eine gewisse Stelle berührt, quellen mir ein paar unwillkürliche Tränen aus den Augen, und es ist nicht einzusehen, was es immer und immer wieder an dieser Stelle zu stochern gibt, endlich sagt er: »Doch, doch – der lebt.«
Nämlich im Hinblick auf den alten Röntgen-Status, den sie in der Kartothek des Vorgängers gefunden haben, kann der junge Zahnarzt es einfach nicht fassen, daß mein Vierer-unten-links noch lebt, meines Erachtens empfindlich genug, auch wenn es auf dem Röntgen-Status (man zeigt mir den Vierer-unten-links, wie ihn der verschollene Stiller hatte) ganz und gar nach einer toten Wurzel aussieht.
»Merkwürdig«, murmelt er, »merkwürdig.«
Dann klingelt er dem Fräulein.
»Ist das wirklich der Röntgen-Status von Herrn Stiller?« fragt er. »Sind Sie sicher?«
»Es steht doch drauf –«
Seine Gewissenhaftigkeit läßt ihm keine Ruhe; abermals vergleicht erZahn um Zahn, wobei sich zeigt, daß Stiller, der verschollene Kunde seines verstorbenen Onkels, beispielsweise über einen tadellosen Achter-obenrechts verfügt haben muß; bei mir ist es eine Lücke. Was habe ich mit dem Achter-oben-rechts (von Stiller) gemacht? Ich zucke die Achsel. Mit Watte und Klammer und Speichelzieher im Mund lasse ich mich nicht verhören. Endlich verschwindet der Röntgen-Status, und der junge Zahnarzt greift zum Bohrer. Nach anderthalb Stunden, als ich endlich keine Klammer mehr im Mund habe und spülen darf, habe ich kein natürliches Bedürfnis mehr, die Diskussion über den alten Röntgen-Status nochmals aufzunehmen. Ich bitte lediglich um Saridon. Knobel sitzt im Wartezimmer. Der graue Gefängniswagen wartet unter einer Allee von Akazien. Die Fahrer sind angehalten, diskret zu parkieren. Da aber die Allee zu einem Schulhaus gehört, dessen Pausenplatz sie begrenzt, und da gerade die große Pause ist, als Knobel und ich zum Wagen zurückkommen, sind wir natürlich von der ganzen Schuljugend umringt. Ein Knirps fragt mich schüchtern, ob ich der Dieb sei. Ein Mädchen ruft voll freudiger Erregung: Herr Lehrer, ein Verbrecher! Ich winke, so gut es hinter dem kleinen Gitterfenster geht. Nur die Lehrer winken nicht.
PS.
Vielleicht, ich frage mich, müßte man sich überall wehren, wo man verwechselt wird, und ich dürfte es keinem Empfangsfräulein durchlassen, daß sie mich als Herr Stiller verbucht; eine Sisyphos-Arbeit! Dann wieder glaube ich, es genügt vollauf, wenn Julika, sie allein, mich nicht verwechselt.
Mexiko –
Ich muß (ich weiß nicht unter welchem Zwang) an den Totentag denken, wie ich ihn auf Janitzio sah, an die indianischen Mütter, wie sie auf den Gräbern kauern die ganze Nacht, alle in ihren festlichen Trachten, sorgsam gekämmt wie für die Hochzeit, und scheinbar geschieht überhaupt nichts, der Friedhof ist eine Terrasse über dem schwarzen See, von steilen Felsen überragt, ein Friedhof ohne einen einzigen Grabstein oder sonst ein Zeichen; jedermann vom Dorf weiß, wo seine Toten liegen, wo er selber einmal liegen wird. Kerzen werden aufgestellt, drei oder sieben oder zwanzig, je nach der Zahl der toten Seelen, dazu die Teller mit allerleiSpeise, die mit einem sauberen Tüchlein bedeckt ist, vor allem aber das sonderbare Ding, das mit weihnachtlicher Liebe gebastelt worden ist, ein Gestell aus Bambus, daran das Gebäck und die Blumen, die Früchte, das bunte Zuckerzeug. Vom Duft dieser Speisen, denn der Duft ist das Wesen der Dinge, soll der Tote sich nähren die ganze Nacht; das ist der Sinn. Nur Frauen und Kinder kommen auf den nächtlichen Friedhof; die Männer beten in der Kirche. Die Frauen, deren Handlung ganz sachlich und nüchtern bleibt, lassen sich nieder wie zu einer langen Rast, schwingen den Schal um ihren Kopf, so daß Frau und Kind, beide unter dem gleichen Schal, wie ein einziges Wesen erscheinen. Die Kerzen, hingereiht zwischen den Lebenden und den Toten, flackern im Wind der kalten Nacht, Stunde um Stunde, während der Mond über
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