Stiller
sie heute noch nicht weiß, ob dieser Schrecken auf bloßer Einbildung oder auf Wirklichkeit beruhte. Sie saßen wieder im Central Park, Hannes und sie, und fütterten die Eichhörnchen; die Sonne gab warm, in den Mulden lag noch Schattenschnee; die Teiche waren teilweise noch gefroren; aber die Vögel zwitscherten, und es wurde Frühling. Die Erde war naß; sie saßen auf den schieferschwarzen Felsen von Manhattan, und Sibylle war froh wie ein Rumpelstilzchen, so heimlich und unerkannt wähnte sie sich in dieser Riesenstadt. Zwischen laublosen Zweigen sah man die Wolkenkratzer im bläulichen Dunst, ihre bekannte Silhouette; am Rande des großen Parkes, jenseits der Stille, schwirrte es geisterhaft, ab und zu tutete es vom Hudson herauf. Ein Polizist ritt in der schwarzen mulmigen Erde der Reitwege. Buben spielten Baseball. Auf den langen Bänken saß da und dort ein Zeitungsleser, oder es kam ein Liebespaar, dann eine Dame, die ihren Hund zu den raren Bäumen führte. Sibylle genoß es, niemand zu kennen. Sie sah den Mann, der hinter ihrem Rücken vorbeigegangen war, nur noch von hinten, einen Augenblick lang vollkommen gewiß, daß dieser Mann, der da schlenderte, niemand anders als Stiller sein konnte, und es fehlte wenig, daß Sibylle unwillkürlich gerufen hätte. Natürlich redetesie es sich aus. Wieso sollte Stiller hier in Neuyork herumschlendern? Ein Rest von Unruhe blieb dennoch, halb Hoffnung, halb Angst, es könnte wirklich Stiller sein. Sibylle nahm Hannes an der Hand und ging durch den Park, nicht um ihn zu suchen, eher um zu fliehen; immerhin mußte sie in der gleichen Richtung gehen. Natürlich, wie erwartet, sah sie den betreffenden Mann nicht mehr. Sie hatte ihr Hirngespinst (das war es ja wohl) völlig vergessen, als sie einige Tage später in die Subway hinunterstieg, das heißt, es war eine rollende Treppe; sie fuhr hinunter – er fuhr hinauf. Ein Austreten war ja nicht möglich. Hatte er sie nicht angestarrt, wenn auch ohne Gruß? Die Unwahrscheinlichkeit war ihr Trost. Oder stellte Stiller ihr nach? Jedenfalls sah Sibylle, daß der Mann, den sie für Stiller gehalten hatte, oben an der Treppe nicht weiterging, sondern sofort auf die andere Treppe wechselte, um herunterzukommen. Es war ein arges Gedränge, eine gelassene Beobachtung kaum möglich, ganz abgesehen von ihrer inneren Verwirrung. Ein GI-Mantel in Amerika, was beweist das schon! Später redete Sibylle es sich wieder aus; sie hatte den Mann auf der Rolltreppe dermaßen angegafft, daß er sich, ohne Sibylle zu kennen, vielleicht Hoffnungen machte und daher zurückkam. Mag sein. Im Augenblick handelte Sibylle vollkommen unwillkürlich: sie zwängte sich in den nächsten Wagen irgendeiner Untergrundbahn, die Türe schloß sich, man fuhr davon. Einige Wochen lang hatte sie immer etwas Angst, sooft sie auf die Straße ging, jedoch vergeblich; nie wieder sah sie einen Mann, der sich mit Stiller hätte verwechseln lassen.
Ihre Arbeit, wie gesagt, war öde. Sie saß in einem Saal ohne Tageslicht, nach einer Woche überzeugt, diese Unnatur nicht aushalten zu können. Keine Ahnung, ob es draußen regnet oder strahlt, kein Erlebnis der Tageszeit, nie ein Zug von Luft, die etwa nach Gewitter riecht oder nach Menschen oder nach Laub oder auch nur nach verregnetem Asphalt, es war um so gräßlicher, als Sibylle durchaus die einzige blieb, die überhaupt etwas vermißte; sie glaubte vor lauter air-condition zu ersticken. Die Gewißheit, daß es in jedem besseren Betrieb genau so sein würde, machte sie vollends ratlos. Was blieb ihr anderes als Fleiß aus Verzweiflung? Infolgedessen schätzte man sie, und als Sibylle nach einem halben Jahr kündigte, hielt man sie mit verdoppeltem Lohn. Jetzt konnte Sibylle sich eine andere, erfreulichere Wohnung leisten, zwei Zimmer mit sogenanntem Dachgarten, Riverside Drive, mit Blick auf den breiten Hudson. Und hier, im achtzehnten Stockwerk, war sie selig. Sie sonnten sich im Schutze einerroten Brandmauer, Hannes und sie, sahen viel Himmel und sogar Landschaft, Wald. Und ostwärts das Meer. In dunstiger Ferne schon erkannte Hannes, ob es die »Ile de France« oder die »Queen Mary« war, was einfuhr. Und am Abend, wenn es dunkelte, hatte sie vor dem Fenster gerade die schwungvolle Lichter-Girlande der Washington Bridge. Hier wohnte Sibylle fast zwei Jahre lang. Immer seltener dachte sie an die Rückkehr in die Schweiz. Das Leben in Amerika (so sagt sie) gefiel ihr sehr, ohne daß es sie begeisterte; sie genoß
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