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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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die Fremde. Dabei hat sie das eigentlichere Amerika, den Westen, nie gesehen. Sibylle hatte es vor, einmal an die andere Küste zu fahren, Arizona kennenzulernen, Texas, die Blumen in Kalifornien; aber sie war ja eine Angestellte, und das heißt, sie konnte leben, sogar sehr ordentlich leben, genau so lange als sie vor ihrer Schreibmaschine saß und tippte: für die Freiheit ihres Wochenendes, die immerhin einen Radius von hundert Meilen hatte. Sie liebte Neuyork. In den ersten Wochen schien ihr nichts leichter zu sein als der Umgang mit amerikanischen Menschen. Alle waren so offen, so selbstverständlich; Freundschaften flogen ihr zu, oder es schien wenigstens so, wie noch nie im Leben. Auch genoß sie es, als Frau so unbehelligt zu sein, ja, es war, als hätte sie mit der Landung in Amerika aufgehört, eine Frau zu sein; bei aller Sympathie nahm man sie durchaus als ein Neutrum. Nach ihren letzten Erlebnissen war es ein Labsal, versteht sich, wenigstens anfänglich. Und auch später (so sagt sie) hatte sie gar kein Verlangen nach einem Mann, schon gar nicht nach einem amerikanischen; sie hatte Freunde, besser gesagt: friends. Die meisten von ihnen hatten einen Wagen, und das war nicht unwichtig zumal im Sommer, wenn es in Neuyork so heiß ist. Mit der Zeit irritierte es sie allerdings doch, dieses Fehlen einer Atmosphäre, wie es sie selbst in der Schweiz gibt. Es ist nicht leicht zu sagen, was eigentlich fehlt. Jedermann lobte ihr neues Frühlingskleid, ihr gesundes Aussehen, ihren Sohn; es war, verglichen gerade mit der Schweiz, einfach köstlich, wie die Leute zu loben wagen. Aber plötzlich fragte sich Sibylle, ob sie überhaupt sehen, was sie loben. Es war merkwürdig (so sagt sie) zu erfahren, wie wunderbar und groß die Vielfalt des erotischen Spieles ist; Sibylle erfuhr es nie so deutlich wie hier, wo es diese Vielfalt nicht gibt. Beim Verlassen eines Restaurants, beim Verlassen einer Subway, beim Verlassen einer Gesellschaft, nie hatte sie das Gefühl, von einem Mann vermißt zu werden in jener holden Art, die beide Teile, ohne daß sie eine weitere Begegnung suchen, irgendwie beschwingt. Nie auf der Straße traf sie der kurze Blickabsichtloser Freude, ja, nicht einmal in Gesprächen geisterte etwas von der erregenden Ahnung, daß es den Menschen in zwei Geschlechtern gibt. Alles blieb kameradschaftlich, insofern sehr nett; aber es fiel auch eine Spannung aus, eine Fülle der blühenden Nuancen, eine Kunst des Spiels, ein Zauber, eine Drohung, die erregende Möglichkeit lebendiger Verstrickung. Es war flach, nicht geistlos, um Gottes willen, es wimmelte von gescheiten Leuten, von gebildeten Leuten; aber es war leblos, irgendwie reizlos, ahnungslos. Dann kam Sibylle sich als Frau wie unter einer Tarnkappe vor: von niemandem gesehen, nein, nicht gesehen, man hörte nur, was sie redete, und fand es lustig, interessant, mag sein, aber es war eine Zusammenkunft im luftlosen Raum. Es war komisch; sie plauderten über ›Sex problem‹ mit einer so voreiligen Unbefangenheit, mit der Aufgeklärtheit von Eunuchen, die nicht wissen, wovon sie reden. Einen Unterschied zwischen Sex und Erotik schien hier niemand zu kennen. Und wenn sie dann ihren strotzenden Mangel auch noch für Gesundheit hielten, nein, es war nicht immer lustig, es war langweilig. Was hat Neuyork nicht alles zu bieten! Es war eine Schande, sich hier zu langweilen. Allein die Konzerte! Aber das Leben selbst, das alltägliche, das Einkaufen, das Mittagessen im Drugstore, das Fahren im Bus, das Warten an einer Station, das Drum und Dran, das neun Zehntel unseres Lebens ausmacht, es war so unerhört praktisch, so unerhört glanzlos. Manchmal ging Sibylle ins italienische Viertel, um Gemüse zu kaufen, wie sie meinte; tatsächlich ging sie, um zu sehen, hungrig nach Sehenswertem. Oder lag es an Sibylle? Nach etwa einem halben Jahr hatte sie das bittere Gefühl, alle Menschen enttäuscht zu haben. Sie hatte ein Büchlein voll Adressen, aber wagte niemand mehr anzurufen. Womit hatte sie alle diese freundlichen Freunde enttäuscht? Sie wußte es nicht, sie erfuhr es nicht. Es bedrückte sie ernsthaft. Indessen, und dies verwirrte Sibylle noch mehr, hatte sie überhaupt nichts verscherzt, ganz und gar nicht; traf man sich zufällig, tönte es genau wie beim erstenmal: Hallo Sibylle! und auf der andern Seite war keine Spur von Enttäuschung. All diese offenen und so selbstverständlichen Leute, schien es, erwarteten nicht mehr von einer menschlichen

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