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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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aus dem Staunen heraus: Die spiegelnden Fähren auf dem Hudson, die Girlanden der Brücken, die Sterne über einer Sintflut von Neon-Limonade, von Süßigkeit, von Kitsch, der ins Grandiose übergeht, Vanille und Himbeer, dazwischen die violette Blässe von Herbstzeitlosen, das Grün von Gletschern, ein Grün, wie es in Retorten vorkommt, dazwischen Milch von Löwenzahn, Firlefanz und Vision, ja, und Schönheit, ach, eine feenhafte Schönheit, ein Kaleidoskop aus Kindertagen, ein Mosaik aus bunten Scherben, aber bewegt, dabei leblos und kalt wie Glas, dann wieder bengalische Dämpfe einer Walpurgisnacht auf dem Theater, ein himmlischer Regenbogen, der in tausend Splitter zerfallen und über die Erde zerstreut ist, eine Orgie der Disharmonie, der Harmonie, eine Orgie von Alltag, technisch und merkantil über alles, zugleich denkt man an Tausendundeine Nacht, an Teppiche, die aber glühen, an schnöde Edelsteine, an kindliches Feuerwerk, das auf den Boden gefallen ist und weiterglimmt, alles hat man schon gesehen, irgendwo, vielleicht hinter geschlossenen Augenlidern bei Fieber, da und dort ist es auch rot, nicht rot wie Blut, dünner, rot wie die Spiegellichter in einem Glas voll roten Weines, wenn die Sonne hineinscheint,rot und auch gelb, aber nicht gelb wie Honig, dünner, gelb wie Whisky, grünlich-gelb wie Schwefel und gewisse Pilze, seltsam, aber alles von einer Schönheit, die, wenn sie tönte, Gesang der Sirenen wäre, ja, so ungefähr ist es, sinnlich und leblos zugleich, geistig und albern und gewaltig, ein Bau von Menschen oder Termiten, Sinfonie und Limonade, man muß es gesehen haben, um es sich vorstellen zu können, aber mit Augen gesehen, nicht bloß mit Urteil, gesehen haben als ein Verwirrter, ein Betörter, ein Erschrockener, ein Seliger, ein Ungläubiger, ein Hingerissener, ein Fremder auf Erden, nicht nur fremd in Amerika, es ist genau so, daß man darüber lächeln kann, jauchzen kann, weinen kann. Und weit draußen, im Osten, steigt der bronzene Mond empor, eine gehämmerte Scheibe, ein Gong, der schweigt ... Das Verwirrendste aber für Rolf war natürlich Sibylle, seine Frau, die hier zu Hause war. Sie tranken ihren Martini – etwas stumm – und blickten einander gelegentlich an, lächelten fast etwas spöttisch, als sie merkten, daß ein Atlantik zwischen ihnen eigentlich nicht nötig war. Rolf getraute sich zwar kaum, ihren nahen Arm zu fassen; seine Zärtlichkeit blieb in den Augen. Auch Sibylle fühlte, daß die Welt, wie groß sie auch sein mochte, keinen Menschen hatte, der ihr näher stehen könnte als dieser Rolf, ihr Mann; sie leugnete es nicht. Immerhin erbat sie sich eine Bedenkzeit von vierundzwanzig Stunden.

Siebentes Heft
    Heute beim Zahnarzt.
    Es sind Bagatellen, und das ist ja das Schreckliche: gegen Bagatellen wehrt man sich nicht. Man wird müde! Schon das weiße Empfangsfräulein kommt ins Wartezimmer und sagt: Herr Stiller, darf ich bitten. Soll ich sie anbrüllen vor allen andern? Sie kann ja nichts dafür, diese nette Person; ich bin als Herr Stiller verbucht. Also folge ich ihr wortlos. All dies verdanke ich meinem Verteidiger! Sie hängen mir das weiße Tuch um den Hals, geben ein frisches Glas, füllen es mit lauem Wasser, alles sehr freundlich, und der junge Zahnarzt, der Nachfolger jenes verstorbenen Zahnarztes, dem der verschollene Stiller noch immer eine Rechnung schuldet, seift sich die Hände. Auch er kann nichts dafür; was die Namen der Patienten betrifft, muß er sich ja ganz und gar auf sein Empfangsfräulein verlassen, zumal er die ererbte Kundschaft noch nicht kennt.
    »Herr Stiller«, sagt er, »Sie haben Schmerzen?«
    Ich spüle gerade, nicke mit Bezug auf die Schmerzen, und ehe ich das Mißverständnis richtigstellen kann, hat seine Pinzette auch schon die Stelle gefunden, wo mir jede Diskussion vergeht. Der junge Mann nimmt es sehr genau.
    »Sehen Sie«, sagt er und zeigt es mir mit Spiegelchen, »eine solche Krone zum Beispiel, dieser Sechser-oben-links – sehen Sie es? – kein Wort gegen meinen Vorgänger, aber eine solche Krone ist ja unmöglich.«
    Er mißversteht meinen Blick, meint, ich wolle seinen Vorgänger irgendwie in Schutz nehmen. Mit Watte und Klammer und Speichelzieher im offenen Mund, so daß man nicht widersprechen kann, höre ich seine zweifellos interessanten Ausführungen über die neuen Erkenntnisse in der Zahnheilkunde. Der junge Mann hat wohl die Praxis seines Onkels und die Kunden übernommen, ist aber keinesfalls gewillt,

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