Stiller
Köpfen wünschten auch sie dem Paar, das allein in der Wirtsstube zurückblieb, einen Guten Abend ›miteinander‹. Stiller spielte nach wie vor mit dem Bierteller. »Ich kenne das –«, sagte er, »nur habe ich es nie jemand erzählt. Übrigens ist es lange her. Ich wußte ganz genau, wen ich liebte, und trotzdem! Es war sogar auf der Reise zu ihr, ja, auch am Vorabend unseres Wiedersehens. Plötzlich bin ich ins Schleudern gekommen – genau so«, sagte er und legte den Bierteller hin. »Ich kenne das ...« Mehr hatte er nicht zu sagen. »Ins Schleudern gekommen«, dieser Ausdruck tröstete Sibylle offenbar ungemein, gab ihr die Möglichkeit zurück, sogar die Zuversicht, von dieser Stunde an wieder auf den Weg zu kommen. Und sie glaubten sogar (so sagt sie) noch an jenem Abend, daß es ein gemeinsamer Weg sein könnte.
Das erwies sich als Irrtum.
Am andern Morgen – nach einer Scherbennacht – verabschiedeten sie sich auf dem kleinen Bahnhof von Pontresina. Sibylle blieb stehen, als der Zug endlich zu fahren begann, wie eine Skulptur auf ihrem Sockel, und beide, Stiller am offenen Fenster, Sibylle auf dem Bahnsteig, hoben ein wenig ihre Hand zum Gruß. (Seither hat Sibylle, die Gattin meines Staatsanwaltes, den verschollenen Stiller nicht mehr gesehen.) Sie selbst ging langsam ins Hotel zurück, erbat ihre Rechnung, packte und reiste noch am selben Tag. Es war unmöglich, nun einfach zu Rolf zurückzukehren, fand sie, und Redwood-City schien ihr die Rettung zu sein; sie mußte jetzt arbeiten, allein sein, ihr eigenes Geld verdienen. Sonst fühlte sie sich ausgeliefert und wußte nicht, wohin sie gehörte; der Weg von der Frau zur Dirne erwies sich als erstaunlich kurz. In Zürich empfing Rolf sie mit der Eröffnung, daß er zur Scheidung bereit wäre. Sibylle überließ es ihm, die passenden Schritte einzuleiten und bat darum, den kleinen Hannes nach Redwood-City mitnehmen zu dürfen. Ihr Gespräch befaßte sich nur noch mit der Zukunft, mit praktischen Fragen. Was Hannes betraf, ihren gemeinsamen Sohn, so war es allerdings eine schwierige Frage, was für das Kind selbst das Bessere sein möchte; Rolf erbat sich eine Bedenkzeit von vierundzwanzig Stunden. Dann, zu ihrer Verwunderung, willigte er ein. Sibylle dankte ihm, indem sie auf seine Hände weinte, und fuhr kurz vor Weihnachten, von ihrem Mann an den Hauptbahnhof begleitet, nach Le Havre, um sich für Amerika einzuschiffen.
Mein Freund, der Staatsanwalt, meldet, daß die Schlußverhandlung (mit Urteilsspruch) auf Dienstag in acht Tagen angesetzt ist.
Amerika brachte für Sibylle eine Zeit fast klösterlicher Einsamkeit. Sie blieb in Neuyork. Als der junge Sturzenegger von Kalifornien herüberkam, um die Sekretärin, die er nicht brauchte, in Empfang zu nehmen, hatte Sibylle bereits eine andere Stelle gefunden, dank ihrer Kenntnisse der europäischen Sprachen eine ganz ordentliche Stelle. Achtzig Dollar in der Woche. Sie war stolz. Und Sturzenegger, der es nicht tragisch nahm, fuhr allein nach seinem Redwood-City zurück, nachdem er Sibylle zu einem französischen Abendessen im Village eingeladen hatte. Mit dem Schleudernwar’s zu Ende. Der Weg jedoch, ihr Weg, war ziemlich streng. Zum erstenmal stand Sibylle, Tochter aus reichem Haus, in dieser Welt wie andere Leute, nämlich einsam und für sich selbst verantwortlich, abhängig von ihren eignen Fähigkeiten, abhängig von der Nachfrage, abhängig von Laune und Anstand eines Arbeitgebers. Es war merkwürdig: sie empfand es als Freiheit. Sie empfand es als Würde. Ihre Arbeit war öde, sie hatte Geschäftsbriefe zu übersetzen ins Deutsche, Französische, Italienische, immer etwa die gleichen. Und ihre erste eigene Wohnung in dieser Welt war so, daß man auch tagsüber, wenn draußen die Sonne schien, nicht ohne Glühbirne lesen oder nähen konnte, fast nie ein Fenster zu öffnen wagte, weil sonst wieder alles voll Ruß war, und Wachs in die Ohren steckte, um schlafen zu können. Sibylle war sich bewußt, daß Millionen von Leuten schlechter wohnten als sie, daß sie somit kein Anrecht hatte zu klagen. Überhaupt kam Klagen einfach nicht in Frage; schon wegen Rolf nicht. Zum Glück konnte sie Hannes tagsüber in ein deutsch-jüdisches Kinderheim geben. Ihre Freizeit verbrachte sie mit Hannes, wenn immer das Wetter es zuließ, im nahen Central Park; dort gab es Bäume ...
Sie begann, wie man so sagt, ein neues Leben.
Einmal, im Februar, erlebte Sibylle einen kleinen Schrecken, wobei
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