Stiller
die finsteren Berge steigt und in gelassenem Bogen wieder sinkt. Wieder geschieht nichts. Hin und wieder das verwehte Gebimmel einer Glocke, das Gebell eines Hundes gegen den Mond; sonst nichts. Geweint wird nirgends, gesprochen nur wenig, nur das Nötige, dann aber nicht im Flüsterton, wie man ihn auf unseren Friedhöfen hört; es geht hier nicht um Stimmung. Die Stille, der sich übrigens auch die Kinder unterwerfen, indem sie Stunde um Stunde in die flackernde Kerze schauen oder in die leere Nacht über dem See, ist nicht Andacht, nicht Innerlichkeit in unserem Sinn, nicht im schlechten und nicht im guten. Es ist einfach Stille. Es gibt, angesichts der Tatsache von Leben und Tod, gar nichts zu sagen. Einige schlafen sogar, während ihr Toter, Vater oder Gatte oder Sohn, sich lautlos nährt vom Duft, vom Wesen der Dinge. Gegen Mitternacht kommen die letzten; niemand wird die Gräber verlassen bis zum Morgengrauen. Zu Tausenden flackern die toten Seelen. Ein frierendes Kind, das sehr bedrohlich hustet, als möchte es bald zu den Toten, bekommt, obzwar die Speisen noch den Toten gehören, einen kleinen Vorschuß an Zuckerzeug. Im ganzen sind sie von einer seltsamen Geduld. Und es ist kalt, sehr kalt, es ist die Nacht des ersten November. Ein kleines Mädchen, dessen Mutter schlummert, spielt mit einer Kerze, macht sich warme Kerzentropfen auf die Hand, bis die Kerze dabei verlöscht, und zündet sie dann immer wieder an. Und immer wieder mit dem Wind duftet es sehr stark; die Frauen zerrupfen gelbe Blumen, streuen sie gegen die Toten, eine Verrichtung, wie man etwa Gemüse rüstet, nicht nachlässig, aber ohne unnötige Gebärde, ohne Betonung, ohne Stimmung, ohne schauspielerischen Ausdruck, daß hier etwas Sinnbildliches gemeint sei. Es ist überhaupt nicht gemeint, sondern einfach gemacht.Und es ist, als würde die Stille immer noch stiller; der Mond ist untergegangen, die Kälte ist bissig. Nichts geschieht. Die Frauen knien nicht, sondern sitzen auf der Erde, damit die Seelen der Verstorbenen aufsteigen in ihren Schoß. Das ist alles, bis der Morgen graut, eine Nacht der stillen Geduld, eine Hingabe an das unerläßliche Stirb und Werde –
Gespräch mit dem Staatsanwalt, meinem Freund, über Stiller: – »Die weitaus meisten Menschenleben werden durch Selbstüberforderung vernichtet«, sagt er und erklärt es sich etwa folgendermaßen: »Unser Bewußtsein hat sich im Laufe einiger Jahrhunderte sehr verändert, unser Gefühlsleben sehr viel weniger. Daher eine Diskrepanz zwischen unserem intellektuellen und unserem emotionellen Niveau. Die meisten von uns haben so ein Paket mit fleischfarbenem Stoff, nämlich Gefühle, die sie von ihrem intellektuellen Niveau aus nicht wahrhaben wollen. Es gibt zwei Auswege, die zu nichts führen; wir töten unsere primitiven und also unwürdigen Gefühle ab, soweit als möglich, auf die Gefahr hin, daß dadurch das Gefühlsleben überhaupt abgetötet wird, oder wir geben unseren unwürdigen Gefühlen einfach einen anderen Namen. Wir lügen sie um. Wir etikettieren sie nach dem Wunsch unseres Bewußtseins. Je wendiger unser Bewußtsein, je belesener, um so zahlreicher und um so nobler unsere Hintertüren, um so geistvoller die Selbstbelügung! Man kann sich ein Leben lang damit unterhalten, und zwar vortrefflich, nur kommt man damit nicht zum Leben, sondern unweigerlich in die Selbstentfremdung. Beispielsweise können wir uns den Mangel an Mut, einmal in die Knie zu gehen, unschwer als gute Haltung auslegen, die Angst vor Selbstverwirklichung unschwer als Selbstlosigkeit und so fort. Die meisten von uns wissen nur allzu gut, was sie in dieser oder jener Situation empfinden sollten, beziehungsweise nicht empfinden dürften, und haben selbst bei gutem Willen bereits die allergrößte Mühe herauszufinden, welcher Art ihre tatsächlich vorhandenen Gefühle sind. Das ist ein übler Zustand. Sarkasmus allem Gefühl gegenüber ist das klassische Symptom dafür ... Zur Selbstüberforderung gehört unweigerlich eine falsche Art von schlechtem Gewissen. Einer nimmt es sich übel, kein Genie zu sein, ein anderer nimmt es sich übel, trotz guter Erziehung kein Heiliger zu sein, und Stiller nahm es sich übel, kein Spanienkämpfer zu sein ... Es ist merkwürdig, was sich uns, sobald wir in der Selbstüberforderung und damit in der Selbstentfremdung sind, nicht allesals Gewissen anbietet. Die innere Stimme, die berühmte, ist oft genug nur die kokette Stimme eines Pseudo-Ich, das
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